Man muss die Natur und Funktion der Struktur jenes Körperteils verstehen, das bei der Beschneidung amputiert wird, um über die Auswirkungen der Beschneidung richtig urteilen zu können. Dieses Kapitel stellt diese Informationen bereit.
Die Vorhaut wurde traditionsgemäß als eine einfache Hautfalte (1) beschrieben, deren Zweck und Funktion unbekannt ist. Das ist alles andere als genau. In Wirklichkeit ist die Vorhaut eine komplexe Struktur, die eine Vielzahl anatomischer und physiologischer Funktionen erfüllt.(2)
Die Vorhaut bildet einen Teil der gesamten Hauthülle des Penis. Sie ist ein spezialisiertes Gewebe, das aus Haut, Schleimhaut, Nerven, Blutgefäßen, und Muskelfasern besteht.(2) Die Vorhaut ist durch die Bauchdecke am proximalen [äußersten] Ende des Penis und am proximalen Ende der Eichel verankert. Sie ist nicht mit dem Penisschaft verbunden, sodass sie nach der Pubertät, frei vor und zurück gleiten kann, während sie sich dabei aus- und wieder einstülpt.(3) Dieses Vor- und Zurückgleiten/rollen wird als Gleitfunktion bezeichnet.(3, 4)
Ein Frenulum [Vorhautbändchen] befindet sich an der ventralen Seite des Penis. Das Frenulum dient dazu, eine bewegliche Struktur mit einer nicht-beweglichen Struktur zu verbinden. Das Frenulum des Penis bringt die Vorhaut zurück auf ihre normale, schützende vordere Position.(2) Das Frenulum ist für die meisten Männer ein hocherogenes Gewebe.
In der Haut des Penis befindet sich eine Schicht von Dartos fascia Muskelfasern-derperipenische Muskel.(2, 3, 5) Die Muskelfasern halten die Vorhaut passgenau auf der Eichel.(3) Die Fasern der peripenischen Muskelscheide bilden einen Wirbel an der Vorhautspitze, der als Schließmuskel fungiert,(3) insbesondere bei Säuglingen und Kindern. Der Schließmuskel dient ferner dazu ein unbeabsichtigtes Zurückziehen der Vorhaut zu verhindern. Der peripenische Muskel verleiht der Vorhaut große Elastizität, ermöglich es ihr sich zu dehnen, und hilft dabei die Vorhaut nach dem Zurückziehen auf ihre vordere, schützende Stellung zurückzubringen.(2) Die Elastizität der Vorhaut ist von enormer Wichtigkeit für die erogenen und sexuellen Funktionen der Vorhaut.
Die Vorhaut bedeckt und schützt die Eichel und den Meatus urethrae (Harnröhrenöffnung). Bei den meisten Jungen schützt die Vorhaut in der Kindheit die sterile Umgebung des Harntraktes und erhält das ganze Leben lang die Feuchtigkeit der Schleimhautoberfläche der Eichel— welche wiederum gesundheitsförderlich ist.(6) Fleisset al. (1998) untersuchten die immunologischen Funktionen der Vorhaut, die helfen, den Körper vor Keimen zu schützen:(7)
Die Epidermis der Vorhaut enthält Langerhans-Zellen, die Zytokine produzieren,(2) hormon-artige Proteine mit geringem Molekulargewicht, die die Intensität und die Länge der Immunantworten regulieren.(9) De Witte und Kollegen (2007) belegen, dass Langerhans-Zellen Langerin produzieren, eine Substanz, die eine Barriere gegen HIV-Infektionen bildet.(10)
Die Vorhaut eines neugeborenen Jungen zeichnet sich durch einen enormen Nervenreichtum aus. Winkelmann (1956) merkte an: „[D]ie anfängliche Form der Innervation der menschlichen Vorhaut des Neugeborenen besteht aus einem tiefen und oberflächlichen Netzwerk an Nervenfasern in der Dermis.“(11) Moldwin & Valderrama (1989) belegten, dass die Vorhaut ein umfangreiches neuronales Netzwerk besitzt.(12)
Die Vorhaut von erwachsenen Männern ist sogar noch dichter mit Nerven durchsetzt. Winkelmann (1959) beschrieb die Vorhaut als eine spezifische erogene Zone, in welcher die Nerven nahe der Oberfläche in Reteleisten angeordnet sind.(13) Taylor et al.(1996) fanden auch Nerven nahe der Oberfläche in Reteleisten und beschrieben darüber hinaus eine Konzentration von Nervenendigungen in einem Ring aus gefurchten Gewebe, das sich auf der Innenseite der Vorhautspitze, nahe dem Übergang von Haut und Schleimhaut befindet, und das er gefurchtes Band nannte.(14) Die Nervenenden im gefurchten Band sind Meissner-Körperchen und Krause- Körperchen.
Die Nervenendigungen des Penis, einschließlich der Vorhautnerven, versorgen sowohl die somatosensorischen und das vegetative Nervensystem mit Nervenreizen über verschiedene Routen.(2) Das somatosensorische Nervensystem wird durch die dorsale Vene des Penis mit Nervenreizen versorgt, und das vegetative Nervensystem wird durch die parasympathischen Nerven versorgt, die eng an der Wand der Harnröhrenmembran und durch sie hindurch verlaufen.
Die Vorhaut ist mit einem dichten Gefäßnetzwerk durchzogen, das den Sauerstoff zur Versorgung der hohen Nervendichte liefert.(2, 7, 14)
Viele Autoren haben sich zur Sensitivität der Vorhaut geäußert. Winkelmann (1956) schrieb, „…es ist ein Bereich von großer Sensitivität und besitzt eine reichhaltige Nervenversorgung“.(11) Später (1959) bezeichnete er die Vorhaut als ein spezifische erogene Zone.(13) Falliers (1970) verwies auf das „sinnlichen Vergnügen, die mit der taktilen Stimulation verbunden ist.“(15) Eine bahnbrechende Studie von Sorrells et al. (2007) über die Berührungsempfindlichkeit des Penis belegt, dass die Bereiche des Penis, die am empfindlichsten auf feinste Berührungen reagieren, auf der Vorhaut liegen.(16) Die Beschneidung amputiert folglich die empfindlichsten Bereiche des Penis.
Die Vorhaut ist ein äußerst erogenes Gewebe, das für die normale sexuelle Funktion notwendig ist.(2) Beim Erwachsenen vereinfacht die Gleitfunktion den Introitus (4) und reduziert während des Koitus Reibung und Abschürfungen.(5) Die Bewegung und die Dehnung der Vorhaut während des Koitus stimuliert die Nervenendigungen in der Vorhaut, löst erogene Empfindungen, und schließlich die Ejakulation aus.(18, 19) Die Präsenz der Vorhaut neigt dazu, den Eichelkranz des Penis vor direkter Stimulation zu schützen, hilft vorzeitigen Ejakulationen vorzubeugen (20, 21) und trägt zur weiblichen sexuellen Befriedigung bei (22). (Siehe Kapitel Sechs für eine Diskussion des sexuellen Schadens infolge der Vorhautbeschneidung)
Die große Mehrheit der neugeboren Jungen haben bei der Geburt eine Vorhaut, deren innere Oberfläche mit der Eichel verklebt ist.(2) Darüber hinaus ist die Penisspitze bei der Geburt ohnehin zu eng, um ein Zurückziehen der Vorhaut zu ermöglichen. Die Dauer dieser Zustände ist individuell verschieden, sie kann aber bis zur Vollendung der Pubertät oder noch länger andauern. Aus eben diesen beiden Gründen ist eine nicht-zurückziehbare Vorhaut im Kinder und Jugendalter normal und darf nicht als behandlungsbedürftige Krankheit angesehen werden.
Die ersten Daten über die Entwicklung der zurückschiebbaren Vorhaut lieferte 1949 der britische Kinderarzt Douglas Gairdner.(22) Gairdner behauptete, dass 80 Prozent der 2-jährigen Jungen und 90 Prozent der 3-jährigen Jungen eine zurückziehbare Vorhaut hätten. Seine fehlerhaften Angaben (23) waren in den medizinischen Lehrbüchern und in den Lehrplänen medizinischer Fakultäten über Jahrzehnte hindurch fest verankert, und werden in der medizinischen Fachliteratur selbst heute noch rezitiert.(24)
Gairdners Daten sind jedoch falsch (23-25) und bedauerlicherweise wurden den meisten Ärzten diese falschen Informationen beigebracht,(24, 25) was fehlerhafte Diagnosen von „pathologischen Phimosen“ bei der gesunden, normalen, nicht-zurückziehbaren Vorhaut begünstigt. Jungen bekommen gewöhnlich viel später eine zurückziehbare Vorhaut, als bisher angenommen wurde.(2, 24, 25) Ungefähr 44 Prozent der 10-11 Jährigen Jungen haben eine vollständig zurückschiebbare Vorhaut (2, 27, 28, 29) und ungefähr 95 Prozent der 18 Jährigen Jungen haben eine vollständig zurückziehbare Vorhaut.(2, 27) Bis zum Alter von 10-11 Jahren hat die Mehrheit der Jungen eine nicht-zurückziehbare Vorhaut. Thorvaldsen & Meyhoff (2005) belegen, dass das Durchschnittsalter, ab dem sich die Vorhaut das erste Mal zurückschieben lässt, 10,4 Jahre beträgt.(29) Eine nicht-zurückziehbare Vorhaut im Kindes- und Jugendalter ist keine Krankheit und bedarf auch keiner Behandlung.
Die Ballonierung der Vorhaut in der Kindheit beim Wasserlassen ist harmlos und behebt sich von allein wieder. Babu et al. (2004) belegen, dass die Ballonierung der Vorhaut keine Harnstauung verursacht.(30) Die Ballonierung verschwindet mit zunehmenden Alter von allein. Eine Behandlung ist nicht erforderlich.(31)
Referenzen