„Viele Männer, die als Neugeborene beschnitten wurden, sehen ihre Beschneidung nicht als Thema an, weil sie sich nicht mehr daran erinnern können. In meiner psychotherapeutischen Arbeit mit Männern aber wurde ersichtlich, dass die Erinnerung sehr wohl da ist. Da das Ereignis einem sehr frühen, präverbalen Entwicklungszustand stattfand, wird es meistens als eine körperliche bzw. somatische Erinnerung erfahren und nicht als eine bekanntere, verbale Erinnerung. Verschiedene, verstörende geistige Bilder und intensive Gefühle begleiten häufig das Wiederauftreten dieser körperlichen Erinnerung, einschließlich dem Gefühl von scharfen metallischen Instrumenten, die ins Fleisch schneiden (Narkosemittel finden bei der Säuglings-Beschneidung aufgrund deren besonders hoher Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Versagen zumeist keine Verwendung), das Gefühl von großen Leuten überwältigt zu werden, alleine und hilflos zu sein, Gefühle der Angst, eine Gefühl der Lähmung und der Fixierung.
Bei der Beschneidung des männlichen Neugeborenen wird die männliche Vorhaut, ein gesunder, funktionaler Teil des kindlichen Körpers, entfernt. Die USA sind heute das einzige industrialisierte Land, das weiterhin die Mehrheit seiner neugeborenen männlicher Kinder aus nichtreligiösen Gründen beschneidet. In meiner Klientengruppe aus erwachsenen Männern scheint dieser Eingriff schwere, manchmal unfähigmachende, lebenslange Konsequenzen verursacht zu haben, und nur eine Langzeit-Psychotherapie, die auf Lösung dieses früheren Traumas fokussiert, scheint effektiv in der Behandlung dieser Konsequenzen zu sein. Frühe Prävention durch die Abschaffung der Praktik der Routinebeschneidung ist als erstrebenswert anzusehen.“
Dr. med. John W. Rhinehart, M.D. ist ein praktizierender Psychiater und Psychotherapeut und Leiter des Deep Brook Center, Newtown, CT
Auszug aus: Rhinehart J. Neonatal circumcision reconsidered. Transactional Analysis J 1999;29(3):215-21.
In akademischen Kreisen bricht das lange Zeit bestehende Vorurteil bezüglich einer Vergesslichkeit gegenüber frühen Erinnerungen zusammen. Jener Zeitraum, in dem eine funktionierende Erinnerung am unwahrscheinlichsten scheint, die intrauterine Periode, die nun mehr und mehr durch den Ultraschall erforscht wird, ermöglichte es visuell-experimentellen Psychologen, zu zeigen, dass das Erinnerungsvermögen und das Lernsystem bereits intakt sind. Babys, die immer noch im Mutterleib sind, signalisieren, dass ihnen Reime bekannt sind, die ihnen täglich über einen Zeitraum von 4 Wochen wiederholt aufgesagt wurden. Gleichfalls sind den Babys direkt nach ihrer Geburt die Stimmen der Eltern, Musikstücke, Titelmelodien von Seifenopern, Töne von Nachrichtensendungen, Töne ihrer Muttersprache, genauso wie Gerüche und Geschmäcker, die ihnen im Mutterleib vorgestellt wurden, offensichtlich bekannt. Sie müssen diese folglich Wochen und Monate vor ihrer Geburt gelernt und gespeichert haben.
Erinnerungsexperten hatten bis dahin beständig die Prima-facie-Beweise ignoriert, die von zwei- bis dreijährigen Kindern geliefert wurden, die sich spontan an spezifische Aspekte ihrer Geburt erinnern, wenn sie das erste Mal fähig sind, Sprache zu benutzen. (Linda Mathison, 1981). Diese Beweise, die in Zeitschriften für Eltern und Geburtserzieher publiziert wurden, wurden in wissenschaftlichen Kreisen nicht ernst genommen. Ironischerweise hatten wir über 3 Jahrzehnte lang Erinnerungsexperten, die ein Erinnerungsvermögen an die Geburt abstritten, während zur gleichen Zeit immer neue Wellen von Dreijährigen bewiesen, dass sie falsch lagen!
Psychologen wie auch Kinderärzte waren von der Theorie der „infantilen Amnesie“ begeistert, seitdem diese das erste mal 1916 von Sigmund Freund aufgestellt wurde. Dessen bekannte Schlussfolgerung, dass Menschen sich selten an irgendetwas erinnern, was vor ihrem zweiten oder dritten Geburtstag passiert ist, verwandelte eine beiläufige Beobachtung in ein Dogma der Entwicklungspsychologie. Dieses wurde weiter bekräftigt durch die Theorien eines angesehen Schweizer Psychologen über die Begrenzungen der Neugeborenenintelligenz und ihre angebliche Entwicklung in diskreten Phasen. Die Wand der Illusion bezüglich des kindlichen Erinnerungsvermögens einzureißen bedurfte eines Kaders an engagierten Forschern von beinahe zwei Generationen und mehreren dutzend Experimenten. Der Tod von Freuds Theorie der „infantilen Amnesie" wurde von Carolyn Rovee-Collier (1996) treffend beschrieben, als sie diese eine „Falschvorstellung, eine Bemühung zur Erklärung eines Phänomens, das nicht existiert“ beschrieb.
Ein entscheidendes Vorurteil, das auf die Anatomie zurückging, machte es schwer, zu akzeptieren, dass bereits fortgeschrittene Nutzung des Verstandes möglich ist, weil doch das Gehirn noch nicht voll entwickelt sei und daher nicht zu Erinnerung und Lernen in der Lage wäre. Ein weiteres Vorurteil in der Psychologie war es, dass echte episodische Erinnerungen mit Ungeborenen oder präverbalen Säuglingen nicht getestet werden könnten. Diese Vorannahmen machten es einfach, Forschungen über Ungeborene und Neugeborene zu vermeiden. Als das erste Mal dennoch gegenteilige Befunde dokumentiert wurden, wurden sie leichtfertig verworfen.
Nichtsdestotrotz gelang es experimentellen Psychologen letzten Endes doch zu beweisen, dass drei-, zwei-, einjährige und neugeborene Kinder allesamt fähig sind, unterschiedliche Formen der Erinnerungen aufzuzeigen. Präverbale Säuglinge zeigten, dass sie sich an Prozeduren erinnern konnten, die eine Reihe Schritte umfassten, ja sogar nach langen Zeiträumen Details von versteckten Objekten, Örtlichkeiten und die Tragweite vieler früher Erlebnissen präsent hatten. Letztlich begannen Forscher einzusehen, dass frühes Lernen der selben Faktoren und Bedingungen bedurfte, die die Erinnerung bei älteren Kindern und Erwachsenen verbesserte: die Natur und Wichtigkeit der Ereignisse, die Häufigkeit, in der sie sie erlebten, und die Verfügbarkeit von Hinweisen und Erinnerungshilfen. Die moderne Ansicht ist nun, dass Babys fortwährend dasjenige lernen und speichern, was sie aktuell wissen müssen. Diese Erinnerungen gehen nicht verloren, sie werden nur fortwährend aktualisiert, während der Lernprozess voranschreitet.
Der alte Glaube, dass Säuglinge geistig inkompetent wären, isolierte sie und verzögerte mitunter die Entwicklung selbst ihrer grundlegendsten Sinne, Emotionen, und Fähigkeiten. Noch bedeutsamer ist, dass Dogma und Vorurteil die Belege für höhere Wahrnehmungen, telepathische Kommunikation und subtile Formen des Wissens und des Bewusstseins leugneten, welche erst viel später bestätigt werden konnten, wenn die Babys zu Kindern oder Erwachsenen wurden. Die falsche Vorstellung der „infantilen Amnesie“, die 80 Jahre lang (1916-1996) bestand, täuschte Professionelle sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie und verhinderte, dass Eltern die wahren Fähigkeiten ihrer Babys im Mutterleib, bei der Geburt und im Säuglingsalter begriffen.
Einzelnachweise:
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von David B. Chamberlain, Ph.D.
Chamberlain DB. Infantile “Amnesia” Is Dead! Birth Psychol. www.birthpsychology.com/free-article/infantile-amnesia-dead (last visited 1. Nov. 2012)
„Tausende Jahre hat uns die Ignoranz von einem faktischen Verständnis von Babys abgehalten, eine Informationslücke, die erst in den letzten zwei Jahrzehnten gefüllt wurde. Jahrelange Vorurteile gegenüber Babys werden immer noch in unserer Haltung gegenüber ihrem Alter oder ihrer Größe ersichtlich. „Sie werden einmal richtige Personen werden, wenn sie älter sind, oder unsere Sprache sprechen können.“ In Ignoranz der Gegenbeweise hielten wir an unserem Glauben fest, dass ihre Sinne nicht entwickelt wären und ihr Gehirn unfähig sei, Erinnerung abzuspeichern oder Erfahrungen zu einer Bedeutung zu organisieren. Demnach wäre der Schmerz des Neugeborenen nicht wie unser Schmerz. (Maurer & Maurer, 1988, pp 33-36, 218) – eine Behauptung, die in der nicht allzu fernen Vergangenheit gebraucht wurde, um den Schmerz von Minderheiten oder Sklaven abzuleugnen. Im modernen Indien besteht die grausame Praktik, die Bäuche Neugeborener mit heißen Eisen zu brennen, unter dem Einfluss von Medizinmännern weiter. Der Schmerz wird für sie als gut erachtet (Chandra, 1988), eine Vorstellung, die in den USA manchmal in Bezug auf das Geburtstrauma vorgebracht wird (Lagercrantz & Slotkin, 1986). Trauma sei „gut“, weil es Endorphine aktiviere und das Baby auf das wirkliche Leben vorbereite. Aber wie können Endorphine Traumata rechtfertigen? Experimente an Ratten zeigen, dass durch Elektroschocks in ihre Pfoten ihre Endorphinwerte bis zu 600% nach oben schießen. Doch worin liegt irgendein Grund, sie in die Füße zu schocken? Schmerz ist weder für Ratten noch für Babys gut.
Die Realität der Erinnerung an Schmerz (und Erinnerung an die Geburt) wird von einer Mutter bestätigt, deren neugeborenes Baby einen Shunt wegen eines Wasserkopfes gelegt bekam, ohne Schmerzmittel, während es durch Curare gelähmt war. Große Einschnitte wurden in den Schädel, den Nacken und den Unterleib gemacht und ein Loch wurde in seinen Schädel gebohrt. Sie schreibt, dass auch zehn Jahre nach der Operation ihr Sohn niemandem erlaubt, seinen Kopf, Nacken oder Bauch an den Stellen zu berühren, die von der Operation betroffen waren. Sogar der bloße Anblick eines Krankenhauses löst bei diesem Kind panisches Zittern, ausgiebiges Schwitzen, Schreien, Abwehrversuche und Brechreiz aus.
Ein weiteres Missverständnis entstand durch den Glauben, dass „niedere“, frühere Hirnstrukturen zu keiner komplexen Aktivität fähig wären und nicht richtig arbeiten könnten, ehe nicht die „höheren“, späteren Hirnstrukturen voll entwickelt seien. Auch diese Vorstellung erwies sich im Nachhinein als falsch. (Prechtl, 1981).“
Chamberlain, D.B. (1989) Babies Remember Pain. Pre- and Peri-natal Psychology 3(4): 297-310.