Die folgende Abhandlung wurde ursprünglich als Fachreferat für das vierte Internationale Symposium über sexuelle Verstümmelungen eingereicht, das im August 1996 in Lausanne (Schweiz) stattfand. Dieses bahnte damals den Weg für weitere Forschungsarbeiten und bleibt ein Meilenstein in der Erforschung der Geschichte der medizinisch rationalisierten Beschneidung. Es stellt eine bemerkenswerte Pionierleistung dar, die vollständige Geschichte der Beschneidung ganzer Heerscharen junger und allerjüngster männlicher Erdenbürger aufzuarbeiten, indem man die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren lässt. Mancher Leser mag ungläubig staunen über diese "Therapien", die eine nicht geringe Zahl von Ärzten noch vor kurzer Zeit praktizierten, und über die jene in den einschlägigen Fachzeitschriften oft mit einer grausigen Detailliertheit berichteten. Allein die Gründlichkeit der Bibliographie macht dieses Fachreferat unentbehrlich für jeden an der (Geschichte der) Beschneidung Interessierten.
Die Beschneidung in der westlichen Welt nahm ihren Ausgang im viktorianischen England und verbreitete sich aufgrund der gemeinsamen Sprache von dort aus sukzessive in der gesamten englischsprachigen Hemisphäre. In Kontakt mit den Ideen von einer chirurgischen Verbesserungsbedürftigkeit des männlichen Genitales kamen unsere Landen schließlich durch die Expansion der US-amerikanischen Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit nunmehr über 130 Jahren beteiligt sich besonders die amerikanische Medizinindustrie am Geschäft der vollständigen oder teilweisen Entfernung der äußeren Geschlechtsorgane von männlichen und weiblichen Kindern. Während es über den Ursprung genitaler Verstümmelungen unter prähistorischen und primitiven Völkern nur Theorien und Spekulationen gibt, können Ursprung und Verbreitung der Genitalverstümmelung in der US-amerikanischen medizinischen Praxis präzise dokumentiert werden. Im richtigen Kontext des gesamten Umfangs der abendländischen Geschichte betrachtet ist das moderne Rätsel der institutionalisierten Genitalverstümmelung in der die westliche "Führungsrolle" für sich beanspruchenden Großmacht eine historische Abweichung von enormer Tragweite und gewaltigem Ausmaß: Eine, die niemals hätte vorausgesagt werden können, aber auch eine, die unter Beachtung der in der Folge zu schildernden Umstände sogar vorprogrammiert war? Jedenfalls kann das Phänomen der neuzeitlichen deutschen wie europäischen Knabenbeschneidung nur im Zusammenhang mit der Entwicklung und den Impulsen von jenseits des Atlantiks hinreichend erörtert werden.
Die Einführung und Verbreitung der institutionalisierten, säkularen Genitalverstümmelung war eine Reaktion auf die gewaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Ängste, welche von den Auswirkungen schneller Modernisierung und Industrialisierung der frühen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erzeugt wurden. Als die traditionelle ländlich-agrarische Wirtschaft in eine urbanisierte kapitalistische Wirtschaft gewandelt wurde, fanden parallel Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, den staatlichen und den nicht-staatlichen Einrichtungen, der Demografie und der Technologie statt. Eine bedeutende Folge dieser Veränderungen war der Aufstieg der Mittelklasse zu Positionen mit wirtschaftlichem und politischem Einfluss. Diese aufstrebende Mittelklasse war jetzt in einer Position, in der sie die gesellschaftlichen Wertvorstellungen uminterpretieren und das Individuum für die gesamte Gesellschaft neu definieren konnte.
Als ein Auswuchs der Mittelklasse spiegelte das medizinische Establishment diese soziale Veränderung wieder und verlieh ihr Gültigkeit. Dazu offerierte das medizinische Establishment auch Behandlungen für jene Ängste, die von diesen Veränderungen zwangsläufig auslöst wurden. Auf diese Weise legte es das Fundament für den modernen therapeutischen Staat, welchen Thomas Szasz als die politische Ordnung definierte, in der die gesellschaftlichen Kontrollen durch die Ideologie der Gesundheit legitimiert werden.[1] Beispielsweise wurde die Pubertät als der Beginn des Erwachsenenalters angesehen. Die industrielle Mittelklasse-Gesellschaft verschob die Grenze zur Kindheit um mehr als ein Jahrzehnt nach hinten, sodass Jungen aus der Mittelklasse erst die spezialisierte berufliche und akademische Ausbildung erhalten konnten, die in einer modernen, industrialisierten Gesellschaft erforderlich war.
Die großen Ängste, die dieser Wandel auslöste, äußeren sich in einem verstärkten Fokus auf die kindliche Sexualität. Im Einklang mit den sozialen Moralvorstellungen der Mittelklasse stellten Ärzte die Theorie auf, dass das Kind über Sexualität bis zur verzögerten Heirat in Unwissenheit gehalten werden sollte. Die funktionale Bedeutung dieses Wandels war, dass junge Menschen, von denen in früheren Generationen erwartet wurde, in der frühen Adoleszenz zu heiraten und sexuell aktiv zu werden, sich nun von sexueller Aktivität zurückhalten und keusch bleiben mussten, bis sie über 20 Jahre alt waren. Junge Menschen, die nicht fähig waren ihren Sexualtrieb zu unterdrücken, wurden nicht nur gesellschaftlichem Tadel, sondern auch medizinischen Operationen unterzogen.
Aus Gründen, die mit dem Aufstieg der amerikanischen Mittelklasse nichts zu tun hatten, entwickelten in den 1820er-Jahren zwei französische Ärzte, Xavier Bichat (1771-1802) [2] und François Broussais (1771-1838) [3] ein damals neues Erklärungsmodell für Krankheiten: die „degenerative Krankheitstheorie“. Dieses Modell postulierte, dass dem menschlichen Körper eine begrenzte Menge an Lebensenergie zur Verfügung stünde, die entweder durch korrekte Lebensführung konserviert oder durch falsche Lebensführung permanent verbraucht würde. Die Erschöpfung dieser Energie führe zur Degeneration, die wiederum zur Entstehung von Krankheiten führe. Ärzte der amerikanischen Mittelklasse übernahmen diese Theorie, erweiterten sie aber um die Bedeutung, dass jegliche Manifestation von Sexualität zwangsläufig lebensbedrohliche Verluste von Lebensenergie darstelle. Der Gebrauch der Geschlechtsorgane außer zur Fortpflanzung, selbst innerhalb der Ehe, wurde als gefährlich angesehen. Die Folge war die Formulierung der Krankheitstheorie der „Reflexneurose“, welche wiederum postulierte, dass die Sexualorgane sowie die erotischen Empfindungen, die erstere verursachen, die Ursache aller menschlichen Krankheiten wären. Gefangen in dieser Ideologie, sowie um diese Theorien zu bestätigen, definierten amerikanische Ärzte normales menschliches Sexualverhalten, die Genitalanatomie und die sexuelle Funktion neu als etwas Krankhaftes und Krankmachendes.
Die Pathologisierung des normalen Sexualverhaltens führte geradewegs zur Masturbationshysterie. Die Bezeichnung Masturbation wurde häufig sehr weit gefasst und beschrieb jegliche sexuelle Aktivität und Regung außerhalb des Kontextes des heterosexuellen ehelichen Verkehrs zum Zwecke der Fortpflanzung. In der Praxis folgte die Diagnose „Masturbation“ häufig der Entdeckung, dass das Kind entweder sich selbst sexuell stimulierte oder mit einer anderen Person sexuell aktiv geworden war. Die Ärzte stützten sich dabei auf fadenscheinige Logik um die Pathologisierung sexuellen Verhaltens zu legitimieren. Klinische Unterhaltungen mit Patienten, die an etwas litten, was man heute als Folge von Mangelernährung, Überarbeitung, Geschlechtskrankheiten, Bakterien- oder Vireninfektionen, psychischen Erkrankungen, Tabak- oder Alkoholvergiftungen ansehen würde, mündeten damals zwangsläufig in die Auswirkungen der Masturbation. Auf dieser Grundlage war es ausgemachte Sache, schlusszufolgern, dass die Masturbation diese Krankheiten verursacht hätte. Allerdings akzeptierten die Einwohner der USA diese Theorie, derer zufolge alle Masturbation schädlich sein solle, zunächst nur widerwillig, und viele widersetzten sich dem Eingreifen der Ärzte in ihr Leben und das ihrer Kinder. Doch mit der ansteigenden Flut von Artikeln in medizinischen Fachzeitschriften, die angeblich den Schaden der Masturbation belegten, erwuchs den Ärzten immer mehr Macht, diese Widerstände zu überwinden und die herrschende medizinische Lehrmeinung Stück um Stück durchzusetzen.
Um die Theorie der Reflexneurose zu untermauern, waren Ärzte gezwungen, die drei bezeichnenden Eigenschaften der normalen kindlichen Vorhaut zu pathologisieren: nämlich ihre großzügige Länge, ihre Verklebung mit der Eichel sowie die Enge der Vorhautöffnung. Diese seit Urzeiten vollkommen normalen Eigenschaften der Vorhaut wurden mit der sehr allgemeinen Diagnose „Phimose“ verteufelt. Dazu wurde die Bezeichnung "angeborene Phimose", erschaffen, was die natürliche Verklebung der noch nicht voll entwickelten Vorhaut mit der Eichel bei Säuglingen und Kindern als einen angeborenen Geburtsfehler umdefinierte. Weiters wurde die Bezeichnung "erworbene Phimose" übernommen um eine fiktive Krankheit zu nominieren, bei der die vormals gelöste Vorhaut infolge von Masturbation wieder verklebt sein sollte. Die Bezeichnung "hypertrophe Phimose oder "Redundanz" sollte eine weitere Spielart von Phimose pathologisieren, deren einziges Symptom eine Vorhaut war, die die medizinischen Vordenker willkürlich als "zu lang" befanden.
Da die Vorhaut der am dichtesten mit Nerven und Nervenenden durchsetzte Teil des Penis ist und da die Masturbation unter normalen (nicht beschnittenen) Jungen normalerweise die Vorhaut zu stimulieren und zu berühren mit einschließt, nämlich die bewegliche Hauthülle den Schaft herauf und hinunter zu bewegen (die Struktur der Vorhaut ermöglicht bekanntlich einen großen Bewegungsspielraum), wurde eben diese Vorhaut als eine Ursache von „Reflexkrankheiten“ angesehen. Da es die Keimtheorie der Krankheitsentstehung noch nicht gab, führten amerikanische Ärzte, die die Masturbation allein nicht als die Hauptursache des Krankseins ansahen, Viren- und Pilzinfektionskrankheiten, sowie pathologische Symptome von Mangelernährung und Überarbeitung eben auf Phimose zurück. In Fällen, wo beim besten Willen keine Diagnose einer Phimose möglich war, wurde einfach die Vorhaut selbst „beschuldigt“, die Krankheitsursache zu sein.
Phimose bei Mädchen und Frauen, die als eine Verklebung der Klitorisvorhaut definiert wurde, wurde in genau demselben Lichte betrachtet.
In Übereinstimmung mit der Reflextheorie der Krankheitsentstehung wurden erotische Empfindungen als Irritationen, Orgasmen als Krämpfe und Erektionen als Priapismus neu definiert. Ärzte behaupteten, dass die Manifestation der sexuellen Funktion sowohl Symptome als auch Ursachen von Krankheiten seien, und dass die Stimulation der Genitalien Probleme in weit entfernt liegenden Körperteilen verursachen könne, am Herzen, am Rücken, an den Verdauungsorganen und an den Augen.
Die Pathologisierung der normalen, insbesondere der männlichen, Sexualfunktion führte bald zur Erfindung der Spermatorrhö. Die medizinische Schule definierte Spermatorrhö als eine schwerwiegende Geschlechtskrankheit, deren einziges Symptom die Ejakulation von Sperma bei jedweder Gelegenheit außer dem ehelichen Geschlechtsverkehr war. Der Samenerguss im Rahmen der Pollution oder der Masturbation wurde jetzt als eine Geschlechtskrankheit klassifiziert, die gerade deshalb so gemeingefährlich wäre, weil so viele Leute davon betroffen seien. Hunderte Fallberichte, die in medizinischen Fachzeitschriften der gesamten „westlichen“ Welt veröffentlicht wurden, belegten, zur Zufriedenheit zeitgenössischer Ärzte, dass die Spermatorrhö eine wirkliche und gefährliche Krankheit wäre. Französische Ärzte wie Claude-François Lallemande (1790-1853) und Leopold Deslandes (1797-1852) [4] waren die weltweit anerkannten Autoritäten, was die Behandlung der Spermatorrhö anbetraf. Deren bevorzugte Behandlung bestand darin, lange Stahlstäbe, die auch als Bougies bezeichnet wurden, in die Harnröhre einzuführen und den Abfluss sowohl der Prostata als auch der Bläschendrüse mit Silbernitrat zu kauterisieren. Damit sollte die Produktion von Sperma verlangsamt und dessen Verlust hintangehalten werden. Lallemande riet ebenfalls zur Beschneidung in besonders schweren Fällen von Spermatorrhö um der Masturbation unter Jungs Einhalt zu gebieten.
In den USA erregte Lallemandes Enthusiasmus für die Beschneidung die Aufmerksamkeit von Edward H. Dixon (1808-1880). In seiner Abhandlung über die Krankheiten der Sexualorgane (1845) wurde er einer der ersten nordamerikanischen Befürworter sowohl der therapeutischen Vorhautamputation (um ein bereits bestehendes Problem zu korrigieren) als auch sogar der universellen Einführung des altertümlichen hebräischen Ritus der Säuglingsbeschneidung als eine Präventionsmaßnahme gegen mögliche zukünftige Probleme.[6] Dixon behauptete, dass Phimose, die er als eine Überlänge der Vorhaut definierte, die Hauptursache der meisten schweren Krankheiten wäre. Zunächst wurden Dixon und Lallemande größtenteils ignoriert, während andere chirurgische Behandlungen der Masturbation, Phimose und Spermatorrhö entwickelt und versucht wurden.
Da die chirurgische Amputation von Körperteilen im Allgemeinen als durch und durch modern und fortschrittlich galt, experimentierten Ärzte mit spezifischen Amputationen der Geschlechtsorgane um die Masturbation zu behandeln. 1842 berichtete das „Boston Medical and Surgical Journal“ (heute „New England Journal of Medicine“), dass Dr. Winslow Lewis aus Boston einem Mann die Hodenarterie durchtrennt und abgebunden hatte, der wegen "exzessiver Masturbation" in Behandlung stand.[7] 1843 veröffentlichte Dr. Josiah Crosby aus Meredith, New Hampshire, als einer der ersten Mediziner Berichte über Kastrationen zur Behandlung der Masturbation. Nachdem Abführ- und Brechmittel einen jungen Mann nicht zu heilen vermochten, dessen Gesundheit angeblich durch Masturbation ruiniert worden war, kastrierte ihn Crosby und erklärte ihn anschließend für geheilt.[8] Die Amerikanische Ärzteschaft reagierte mit Interesse. Zwei Jahre später veröffentlichte Dr. Samuel McMinn im „Boston Medical and Surgical Journal“ einen revolutionären Bricht über eine verrückte Frau, die in der Nähe von Tuscaloosa wohnte, eine Rasierklinge genommen und "ihre gesamten äußeren Geschlechtsorgane" amputiert hatte. McMinn war am Ort des Geschehens erschienen und hatte erwartet, dass die Frau infolge ihrer beträchtlichen Wunden sterben würde, doch sie überlebte. Als ihre Wunden heilten, sei ihr Verstand auf wundersame Weise zurückgekehrt. Von diesem Ergebnis fasziniert, spekulierte McMinn:
Das Resultat dieses Falles wies vielleicht den Weg zu einem neuen Heilmittel. Ob nun der große Blutverlust, die Entfernung der Organe und die sich einstellende Gegenirritation die Patientin geheilt hatte, ist eine beachtenswerte Frage für die Profession.[9]
Der Titel aber verriet seine eigene Meinung über die Ursache der Heilung und vermutlich auch die des Redakteurs der Fachzeitschrift. Der Bericht erhielt den dramatisch klingenden Titel "Geisteskrankheit geheilt durch Entfernung der äußeren Geschlechtsorgane."
Zehn Jahre später, 1855, veröffentlichte Dr. William Taylor einen ähnlichen Bericht über einen Zigarrenmacher aus Philadelphia, der verrückt geworden war und sich seinen Penis und seine Hoden mit einer zerbrochenen Flasche abgeschnitten hatte.[10] Trotz des enormen Blutverlusts heilten seine Wunden und sein „Verstand kehrte zurück“. Nun sollten keine weiteren Beweise mehr notwendig sein. Ein revolutionäres Operationsverfahren zur Behandlung des Masturbationswahnsinns war damit etabliert, gerade als die Einführung der antiseptischen Chirurgie den chirurgischen Ambitionen neue Wege eröffnete. Die orthodoxe amerikanische Medizin begann nun mit der vollständigen Amputation der Geschlechtsorgane als der bevorzugten Behandlung für ein breites Spektrum scheinbarer Krankheiten. In psychiatrischen Krankenhäusern wurden nun die Insassen im großen Umfang kastriert im Bestreben sie am Masturbieren zu hindern und dadurch ihre geistige Klarheit wiederherzustellen. Noch bis zum Beginn des 20. Jahrhundert wurden Knaben, die beim Masturbieren erwischt worden waren, häufig in Irrenanstalten eingewiesen, wo sie beschnitten, kastriert oder in ihren Zellen angekettet werden konnten.[11, 12] Frauen und Mädchen wurden einer „weiblichen Kastration“ unterzogen, einer Operation, bei der die Eierstöcke entfernt wurden um die von Hysterie, Epilepsie und Nymphomanie Befallenen zu „heilen“.
In weiterer Folge wurden verschiedene Operationen ersonnen, die darauf abzielten, die sexuelle Lust zu beseitigen und dadurch die Masturbation zu verhindern. “Spermektomie” wurde als eine weniger radikale Alternative zur Kastration entwickelt und bestand in der chirurgischen Entfernung der Samenleiter anstelle der Hoden.[13] Neurektomie gewann in den 1890ern eine gewisse Popularität. Die Neurotomie, häufig an Jungen durchgeführt, die beim Masturbieren erwischt worden waren, umfasste die Durchtrennung der Dorsalnerven des Penis um die Weiterleitung sexueller Stimuli und die sexuelle Funktion vollständig und irreversibel auszuschalten.[14, 15] Des Therapierens nicht müde griffen amerikanische Ärzte auch auf eine Reihe weiterer drastischer Maßnahmen zurück, wie etwa die Harnröhre aufzuschlitzen [16], die Prostata zu kauterisieren (verätzen) [17], körperliche Züchtigung anzuwenden [18], den Penis mit Ätzmitteln, Säure oder Hitze zu verätzen [19], den Penis mit Rasierklingen zu häuten [20], den Penis mit einem Metalldraht (Infibulation) zuzunähen [21], die Genitalien einzugipsen oder in verschließbaren Metallkäfigen zu verschließen [22, 23], oder dem Penis [des Kindes] Ringe mit scharfen Stacheln überzuziehen um Erektionen entgegenzuwirken.[24]
Im Falle von Mädchen war die Therapie der Wahl bei Epilepsie und Masturbation die Klitoridektomie. Einer der ersten Berichte über therapeutische Klitoridektomie wurde 1862 in der „San Francisco Medical Press“ veröffentlicht:
„Dr. E.S. Cooper, Redakteur der „San Francisco Medical Press“, berichtet auszugsweise über zwei Fälle, in denen Mädchen mittels eines Skalpells die Klitoris entfernt wurde. Die beiden waren angeblich „der Angewohnheit der Masturbation unüberwindbar verfallen“, und laut gelehrter Ansicht gab es für diese keine andere Alternative als hoffnungslose Geisteskrankheit einerseits oder ein frühes Grab andererseits. Nach ausgeführter Operation wurde eine der beiden als „vollkommen geheilt“ gepriesen, während die andere zumindest ihre verpönte Angewohnheit aufgegeben haben soll, weiters hätten sich alle geistigen Fähigkeiten verbessert, außer der Erinnerung, die nicht wiederhergestellt werden konnte.“[24]
In den späten 1860er-Jahren entwickelte und bewarb der britische Frauenarzt Isaac Baker Brown die Klitoridektomie als ein Heilmittel gegen Epilepsie und andere psychische Probleme bei Frauen. Seine Behauptungen über Wunderheilungen erregten zunächst großes Interesse, aber seine Methoden alarmierten schließlich die Ärzte des neuen Fachbereichs der Geburtshilfe, 1867 wurde sein Schaffen infrage gestellt und er wurde aus der Gesellschaft für Geburtshilfe ausgeschlossen. Brown wurde als Hauptvergehen vorgeworfen, ein unprofessionelles Maß an Selbstbewerbung betrieben zu haben sowie der Umstand, dass er seine Patientinnen ohne deren informierte Zustimmung operierte. (Er hatte die Angewohnheit, alle seine Patienten unter Chloroform zu setzen und die Operation an ihnen durchzuführen, ganz gleich was ihre Beschwerden waren, ohne sie im Vorhinein überhaupt zu informieren, was er mit ihnen vorhatte.) Die britische medizinische Fachliteratur sprach sich überwiegend für ein Berufsverbot von Baker Brown aus, trotz alledem schwörte die damalige Medizinerschaft weiterhin auf den Segen der Klitoridektomie. Von Bakers Missetaten unbeeindruckt wurde in den USA darüber hinaus sogar seine ganze Person mit aller Entschiedenheit verteidigt. Der Redakteur des einflussreichen „Medical Record“ geißelte den „Anti-Klitoridektomie-Kreuzzug“ in England und argwöhnte, "Wie wird denn nun die Chance auf Heilung für die arme epileptische Frau mit einer Klitoris sein?” [26]
Am 1. Dezember 1855 veröffentlichte der englische Chirurg Jonathan Hutchinson (1828-1913) ein Schriftstück, das einer der einflussreichsten Texte in der Geschichte der Beschneidungsbefürwortung werden sollte, "Über den Einfluss der Beschneidung zur Prävention von Syphilis" [27]. Während der 1850er war London war das Ziel einer massiven Immigration jüdischer Siedler aus den osteuropäischen Gettos, die von der liberalen und toleranten Geisteshaltung, die in England herrschte, angezogen wurden. Hutchinson schrieb, dass am „Metropolitan Free Hospital“ in den östlichen Teilen Londons, wo viele der Immigranten sich niederließen, weniger Juden als Engländer eine Behandlung wegen Syphilis aufsuchten. Ohne auch nur die geringste Ahnung von statistischer Analyse, Epidemiologie, von der Keimtheorie der Krankheitsentstehung oder von der Quarantänewirkung des Gettolebens, behauptete Hutchinson, dass einzig die Beschneidung die Ursache für die unterschiedliche Häufigkeit der Krankheit sein könne. Trotz seiner offenkundigen Fehler bereits vom Ansatz her wurde in ausländischen medizinischen Fachzeitschriften über Hutchsinson Abhandlung in großem Umfang berichtet. Sogar 90 Jahre später wurde diese als glaubwürdiges Beweismittel noch in den 1940ern zitiert. 1857 wurde der Text als weiteres „Beweismittel“ bei einem Tribunal in Wien genutzt, wo ein gewisser Dr. Levit (unter dem Einfluss moderner westlicher Bildung und vermutlich unter dem Eindruck der Anti-Beschneidungsbewegung innerhalb des deutschen Reformjudentums zu dieser Zeit) sich weigerte, seinen neugeborenen Sohn beschneiden zu lassen. Das örtliche Rabbinat, unter dem Einfluss von Dr. Josef Hirschfeld, führte Hutchinsons Schriftstück als Beweis dafür an, dass die Beschneidung kein überkommener Ritus wäre, sondern eine zeitgemäße und wissenschaftlich begründete Maßnahme zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Dem Rabbinat genügte dies als Beweis um Levits Sohn zu ergreifen und ihn gewaltsam gegen den Willen seines Vaters zu beschneiden. Levit blieben keine gesetzlichen Regressmöglichkeiten um sein eigenes Kind zu beschützen.[28]
Unter dem Einfluss von Hutchinsons Interpretationen machte die Zirkumzision als ein prophylaktischer Eingriff jetzt einen vorsichtigen Neuanfang in der amerikanischen Schulmedizin. Bei einem Treffen der Bostoner Gesellschaft zur medizinischen Verbesserung, der „Boston Society for Medical Improvement“, am 12. August 1861, stellte ein gewisser Dr. White eine Abhandlung vor, in welcher er erwähnte, dass die Zirkumzision der Masturbation vorbeugen könne.[29] Sieben Jahre später veröffentlichte Dr. Charles Bliss aus Syracuse, Bundesstaat New York, einen Bericht über seine „erfolgreiche“ Behandlung der Masturbation durch eine teilweise Amputation der Vorhaut.[30] 1869 beschrieb ein Fachbeitrag des Arztes A. B. Arnold aus Baltimore die Geschichte der Beschneidung im religiösen Kontext der Juden, Muslime und bestimmter afrikanischer Völker.[30] Die neue Operation sollte legitimiert werden, indem ihr eine lange geschichtliche Tradition unterstellt wurde, obwohl diese eine nicht-westliche, ja größtenteils afro-asiatische Erscheinung war.
Noch zu Lebzeiten gefeiert als Vater der Orthopädie, ja gar als einer "der bedeutendsten Wohltäter, den die amerikanische Ärzteschaft zum Ruhm der Medizin und zum Wohl der Menschheit hervorgebracht hat” [32], war Dr. Lewis A. Sayre (1820-1900) zweifellos einer der bedeutendsten Gläubigen an die Therapiewirkung der Zirkumzision des Penis. Sayre fungierte ab 1870 als Vizepräsident des amerikanischen Ärztebundes und ab 1880 als deren Präsident. Anlässlich der Jahrestagung des amerikanischen Ärztebundes 1870 verlas er einen bemerkenswerten Artikel unter dem Titel "Partielle Lähmung infolge der Reflexirritation infolge von kongenitaler Phimose und verklebter Vorhaut".[33] Indem er seine Behauptungen mit zahlreichen Fallgeschichten und klinischen Beobachtungen ausschmückte und sich damals zeitgemäßer wissenschaftlicher Methodologien bediente, untermauerte Sayre, zur Zufriedenheit seiner Zuhörerschaft, dass eine lange, verklebte Vorhaut nicht nur die Ursache von Lähmungen in zahlreichen Gliedmaßen war, nein, sondern auch von Hüftgelenkserkrankungen (vermutlich eine Tuberkulose des Hüftgelenks), Hernien, Verdauungsschwierigkeiten, Blasenentzündungen und Ungeschicklichkeit. In jeden Fall, berichtete Sayre, habe die Amputation der Vorhaut des Jungen das Problem behoben. Während seiner restlichen Karriere rief Sayre Ärzte unaufhörlich dazu auf, bei allen Krankheiten immer auch die Vorhaut eines Jungen zu begutachten. Wann immer eine Phimose, laut Definition der Reflextheorie, vorgefunden wurde, wies Sayre die sofortige Amputation der Vorhaut an. Aufgrund seines beruflichen Ansehens und seiner makellosen Referenzen führten große amerikanische medizinische Fakultäten immer mehr von Sayres Theorien und Therapien in ihre Lehrpläne ein.
Während der späten 1860er und über das gesamte folgende Jahrzehnt hindurch geriet die Epilepsie zunehmend in den Fokus des Interesses der Ärzte, was sich an der wachsenden Anzahl von Artikeln zum Thema zeigte, die in medizinisch-wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Sich diese neue Angst zunutze machend verkündete Sayre 1870 der New Yorker pathologischen Gesellschaft, dass Phimose auch die Ursache der Epilepsie sei [34] Ein paar englische Ärzte hätten bereits seit 1865 mit der Zirkumzision zur Behandlung der Epilepsie experimentiert [35], jedoch führten sie das Problem auf die Neigung der Vorhaut zurück, die Masturbation zu begünstigen, und nannten deshalb auch die Prävention der Masturbation als Schlüssel zur Heilung der Krankheit. Sayre behauptete, dass allein eine lange Vorhaut die Macht hätte, starke epileptische Krämpfe zu verursachen und dass die Häutung der Eichel jeden Fall von Epilepsie geheilt hätte, dem er begegnet wäre. Wie bereits im Falle der Lähmung wurden hunderte von Fallberichten im Laufe der nachfolgenden 75 Jahre veröffentlicht, die alle Sayres Präferenz für die Zirkumzision als „Heilmittel“ für die Epilepsie belegen sollten.
Während der Jahrestagung der AMA 1875 hielt Sayre einen weiteren wichtigen Vortrag über „Phimose“. Er informierte seine Zuhörerschaft darüber, dass er entdeckt hätte, dass eine lange und verklebte Vorhaut die Blutzufuhr zur Wirbelsäule unterbrechen, und dadurch Lahmheit, Wirbelsäulenkrümmung, Blasenlähmung und Klumpfuß verursachen könne.[36] Auf wundersame Weise, so berichtete er, bewirkte die Vorhautbeschneidung eine sofortige Heilung aller Patienten, einschließlich des Patienten mit dem Klumpfuß. Im gleichen Vortrag beschrieb er mehrere Fälle, in denen die Klitoridektomie bei gelähmten Mädchen eine sofortige Heilung bewirkte.
Die Hysterie über die Masturbation erreichte ihren Höhepunkt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Von 1800 bis zu den frühen 1870ern erhöhte sich die Anzahl der Artikel in medizinischen Fachzeitschriften zum Thema der Masturbation um erstaunliche 750%. Von den 1870ern bis zu den 1880ern erhöhte sich die Anzahl der Artikel zur Selbstbefriedigung um 25% und von 1880 bis ungefähr 1900 um weitere 30 Prozent. Unter den einflussreichen amerikanischen Ärzten, denen diese Obsession nicht entging, und die noch weiter zu ihr beitrugen, waren Abraham Jacobi (1830-1919) und M.J. Moses. Jacobi war der Gründer und Präsident der amerikanischen Gesellschaft für Kinderheilkunde, der erste Vorsitzende des Bereichs über Kinderkrankheiten der AMA und Präsident der „New York State Medical Society“, der „New York Academy of Medicine“ und der „Association of American Physicians“. Sowohl Jacobi als auch Moses behaupteten, dass jüdische Jungen der Masturbation gegenüber immun wären, weil sie beschnitten waren und dass Nicht-Juden besonders anfällig für die Masturbation wären und damit für all die schrecklichen Krankheiten, die von ihr verursacht würden, einfach nur, weil sie ihre Vorhaut behielten. Moses und Jacobis Studien erlangten anerkannte Autorität, und ihre Behauptungen, dass die Vorhaut der Hauptrisikofaktor für Epilepsie, Lähmung, Mangelernährung, Hysterie und andere Nervenkrankheiten wäre, wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten regelmäßig von medizinischen Autoren zitiert.[37]
1871 veröffentlichte Moses den sehr einflussreichen und oft zitierten Artikel "Der Wert der Beschneidung als eine hygienische und therapeutische Maßnahme" im „New York Medical Journal“. In einer entscheidenden Passage erklärte er, dass seine Erfahrung "als Israelit" würden ihm Autorität verleihen um über den Wert der Beschneidung als gesundheitliche Maßnahme und vor allem als Maßnahme gegen die Selbstbefriedigung zu sprechen:
„Als Israelit ist es mein Wunsch, dieses Thema anzusprechen, und als Arzt habe ich das Medium der medizinischen Fachschrift gewählt, sodass ich mich ungehemmt äußern kann. … Ich verweise auf die Masturbation als eine der Auswirkungen einer langen Vorhaut; Nicht, dass dieses Laster vollständig ausbliebe bei jenen, die einer Beschneidung unterzogen wurden, obwohl ich niemals einen Vorfall bei einem jüdischen Kind dieses sehr zarten Alters sah, außer infolge des Umgangs mit Kindern, deren bedeckte Eichel sie naturgemäß zu dieser Gewohnheit antrieb.“ [38]
Aus dem Kontext geht deutlich hervor, dass das Titelwort "hygienisch" damals eine andere Bedeutung hatte als heute: Zur nämlichen Zeit gebrauchten Beschneidungsbefürworter Worte wie Hygiene um moralische Hygiene anzudeuten, nicht etwa körperliche Reinlichkeit. Moses’ Artikel hatte einen großen Einfluss auf die amerikanischen Ärzte, die nun argumentierten, dass die Kastration zu Gunsten der Beschneidung aufgegeben werden sollte, da die Beschneidung dieselben Krankheiten heile ohne die Zeugungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Ein Artikel im „Medical Record“ von 1895 erläuterte die Macht der Beschneidung, die Masturbation zu verhindern, folgendermaßen:
„In allen Fällen [der Masturbation]…. ist die Circumcision zweifelsohne des Arztes engster Freund und Verbündeter... Um das beste Ergebnis zu erzielen, muss man so viel Haut und Schleimhaut wegschneiden, dass der verbliebene Rest straffgezogen ist, wenn später Erektionen eintreten. Es darf kein Hautspiel mehr vorhanden sein, sobald die Wunde gründlich abgeheilt ist. Die Resthaut muss vielmehr straff am Penis anliegen, denn sollte es nur den geringsten Spielraum geben, wird der Patient bereitwillig seine Praktik wieder aufnehmen, ohne die Zeit und den zusätzlichen Aufwand zu bedauern, der erforderlich sein wird um einen Orgasmus zu erreichen. Es ist jedenfalls eine Tatsache, dass, je länger es braucht um den Orgasmus zu erreichen, desto weniger häufiger versucht wird, diesen zu erreichen, und folglich umso größer der erreichte Nutzen ist...“[39]
Die Liste vormals unheilbarer Krankheiten, von denen die Ärzte der amerikanischen Denkschule nun behaupteten, diese mittels der Vorhaut-Amputation kurieren oder verhindern zu können, wuchs weiter an. Ein Lehrbuch von 1896 erklärte:
„Erst innerhalb der letzten Jahre, seitdem die Physiologie der Nervenreflexe besser verstanden wird, ist die Circumcision eine allgemein akzeptierte Operation unter denkenden Chirurgen geworden. Nicht nur allein bei örtlich begrenzten Erkrankungen ist die Operation angebracht. In allen Fällen, in denen männliche Kinder an Nervenspannungen leiden, chronischen Störungen der Verdauungsorgane, Ruhelosigkeit, Reizbarkeit und anderen Störungen des Nervensystems, bis hin zu Chorea, Krämpfen und Lähmung, oder wo durch Nervenvergeudung die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme unzureichend ist, sowie Krankheiten des Haltungsapparates auftreten, sollte die Beschneidung als eine der Behandlungsmethoden angesehen werden.“[40]
Tausende solcher Berichte und Meinungen wurden in angesehenen amerikanischen Fachzeitschriften veröffentlicht. 1890 produzierte Dr. William D. Gentry (1836-1922) ein typisches Beispiel, “Nervöse Störungen verursacht durch sexuelle Anomalitäten bei Knaben”, welches die furchterregenden und unterschiedlichen Konsequenzen der Phimose, wie auch die Wunderheilung infolge der Penis-Verstümmelung detailliert beschrieb:
„Während meiner Zeit als Arzt am Kinderheim von Kansas City in den Jahren 1884-1885, wurde aus einer ähnlichen Einrichtung in Chicago ein Kind im Alter von zweieinhalb Jahren in dieses Heim gebracht, das blind, taub und stumm war. Es war nervös, quengelig und bereitete der Oberin eine Menge Schwierigkeiten. Es war zwergwüchsig und zeigte die merkwürdige allgemeine Erscheinung, die beinahe jeder Junge aufzeigt, der von genitaler Störung befallen ist. Sobald ich das Kind sah, kam mir der Gedanke in den Sinn, dass seine Schwierigkeiten irgendwie mit solch einer Störung zu tun haben müssten, und als ich eine Untersuchung durchführte, fand ich heraus, dass er eine Phimose hatte. Mit der Zustimmung des Vaters des Jungen operierte und entferne ich diese Störung. Innerhalb zweier Monate konnte das Kind sehen und Laute erzeugen, so als ob es zu sprechen versuchte. Innerhalb von sechs Monaten konnte er hören, sehen und sprechen.“[41]
Die frühen Befürworter der Beschneidung erkannten die sexuellen Funktionen Vorhaut in vollem Umfang an und befürworteten die Beschneidung zur vorsätzlichen Zerstörung eben dieser Funktionen.
Eines von vielen solcher Anerkenntnisse der sexuellen Funktionen der Vorhaut in den „Medical News“, 1900:
„Schließlich scheint die Zirkumzision die Macht der sexuellen Beherrschung zu erhöhen. Der einzige physiologische Vorteil, den die Vorhaut zu verleihen mag, ist, dass sie den Penis in einer empfänglicheren Verfassung für intensivere Empfindungen erhält, als es sonst der Fall wäre. Sie mag die Lust beim Geschlechtsverkehr und den Trieb danach steigern: Aber diese Vorteile können im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft gut entbehrt werden. Wenn also mit deren Verlust dagegen eine Zunahme der sexuellen Beherrschung einhergeht, sollten wir dafür dankbar sein.“ [42]
1902 machte ein Leitartikel im „American Practitioner“ sowie „News“ die anti-sexuelle Motivation hinter der Doktrin der Beschneidung als Hygienemaßnahme mehr als deutlich:
Ein weiterer Vorteil der Zirkumzision ist… die verringerte Anfälligkeit zur Masturbation. Eine lange Vorhaut ist reizend per se, da sie mehr Manipulation der Geschlechtsteile während des Bades notwendig macht. … Das verleitet das Kind dazu mit diesen Teilen zu hantieren, und in aller Regel werden lustvolle Empfindungen durch diese extrem empfindliche Schleimhaut ausgelöst, was zur Manipulation und schließlich Masturbation führt. Die Entblößung der Eichel infolge der Beschneidung... verringert die Empfindlichkeit des Organs. Es obliegt daher dem Arzt, dem Familienberater in Fragen der Hygiene und der Medizin, ihre Akzeptanz voranzutreiben.[43]
Nachdem die Keimtheorie der Krankheitsentstehung weithin anerkannt war und Vitamine entdeckt waren, wurden die meisten bakteriellen Infektionskrankheiten, wie etwa Tuberkulose, aus der Liste der durch Phimose angeblich verursachten Krankheiten still und leise entfernt. Nichtsdestotrotz hielten aber eine erschreckend hohe Zahl amerikanischer Ärzte krampfhaft an dem Glauben fest, eine Phimose wäre pathogen und auf irgendeine, bislang noch unverstandene Weise, die Ursache von Krankheiten wie der Epilepsie. Jahr für Jahr wuchs daher die Liste an Krankheiten, die der Phimose zugeschrieben wurden, weiter an. Selbst merkwürdige Todesfälle wurden einer Phimose zugeschrieben.[44]
Abraham Wolbarst (1872-1952), Urologe, praktizierte unter anderem am „Beth Israel Hospital“ und dem „Jewish Memorial Hospital“ in New York. Im Januar 1914 veröffentlichte er im „Journal of the American Medical Association“ den ersten einer Reihe von Artikeln, in denen er stets die Vorhaut anklagte als den Schuldigen an jenen Krankheiten, die die Gemüter des 20. Jahrhunderts erschaudern lassen sollten. Wolbarst war ein prominentes und einflussreiches Mitglied sowohl der AMA (Amerikanischer Ärztebund) wie der berüchtigten „American Society of Sanitary and Moral Prophylaxis“ (Amerikanische Gesellschaft für gesundheitliche und moralische Prävention), einer Moralverbesserungsorganisation, die sich der Ausmerzung außerehelicher und kindlicher Sexualität verschrieben hatte. Bezeichnenderweise waren Wolbarsts Ansichten über die Sexualität rigide: In den 1930ern argumentierte er, dass erwachsene Masturbatoren zwangssterilisiert werden sollten und es ihnen verboten werden müsste zu heiraten. Schon 1914, in seinem einflussreichen Artikel “Universal circumcision as a sanitary measure“ (Routinebeschneidung aller als Hygienemaßnahmen), fügte er seine selbstgebastelten Statistiken jenen von Hutchinson hinzu um nahezulegen, die Vorhaut-Amputation mache gegenüber der Syphilis immun, sowie um zu fordern, dass eine Beschneidungspflicht eingeführt werden sollte als eine „Maßnahme, die Häufigkeit der Masturbation und anderer Probleme zu reduzieren“. Er verlautbarte, es wäre "allgemein anerkannt, dass der Irritation, die von einer engen Vorhaut ausgehe, nervöse Phänomene folgen können, unter anderen Krämpfe und epilepsieähnliche Ausbrüche. Es sei folglich alles andere als unwahrscheinlich, dass bei vielen Säuglingen, die an Krämpfen sterben, die wahre Todesursache eine lange oder enge Vorhaut sei". Er fügte hinzu, es sei "die moralische Pflicht eines jeden Arztes, die Beschneidung männlicher Kinder voranzutreiben.” [46, 47]
Es ist augenfällig, dass in Wolbarsts Abhandlungen das Wort "hygienisch" durchgehend in Richtung moralische Hygiene zu verstehen ist und nicht etwa als Keim- oder Schmutzfreiheit.
Wichtig ist festzuhalten, dass bis zu jener Zeit die Beschneidung vorwiegend als eine „Therapie“ für Kinder oder Erwachsene beworben wurde, nicht jedoch als Präventivmaßnahme für Säuglinge. Infolge Wolbarst unermüdlicher Lobbyarbeit und Agitation erhielt die radikale Idee der universellen, nicht-therapeutischen Zwangsbeschneidung kleiner Babys unter den amerikanischen Ärzten langsam immer mehr Zuspruch. (Ein solcher Eingriff war nicht einmal mehr therapeutisch, weil er an moralisch untadeligen, gesunden Kindern durchgeführt wurde, die keinerlei Anzeichen einer noch so großzügig definierten „Missbildung“ oder „Erkrankung“ zeigten.) Medizinische Lehrbücher wurden umgeschrieben um Frauenärzte wie Kinderärzte dazu zu ermahnen, den Penis eines jeden neugeborenen Jungen auf die Zurückschiebbarkeit der Vorhaut zu untersuchen. Im Fall der Unmöglichkeit (dem Regelfall!) wurde empfohlen, das Präputium sofort zu entfernen.
Ab Mitte der 1930er, als der Großteil der Ärzteschaft zu der Theorie übergangen war, dass die Epilepsie ein Problem des Gehirns war, hielt Wolbarst an seiner Meinung fest, dass die wahrscheinlichste Ursache der Epilepsie eine enge Vorhaut war.[48] Während er dieses Hirngespinst niemals aufgab, muss er die Notwendigkeit gefühlt haben, seine Argumente gegen die Vorhaut neu zu formulieren um sie so zurechtzubiegen, dass sie den wandelnden Interessen und Ängsten der Öffentlichkeit entsprachen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stieg die Anzahl der Artikel über Krebs in Publikumszeitschriften dramatisch an, was auf eine Verschiebung des öffentlichen Fokus hinweist. Der Leserratgeber zur periodischen Literaturliste zählte dreizehn Artikel über Krebs zwischen 1900 und 1904, doch bis zum Jahr 1909 hatte sich die Anzahl bereits verdoppelt und bis 1928 war sie um 569 Prozent anstiegen. Auf dem Höhepunkt dieses Anstiegs der öffentlichen Angst vor Krebs veröffentliche Wolbarst ein Schriftstück, welches lange Zeit als der ultimative Fachtext schlechthin über die Zirkumzision als die verlässlichste Vorbeugungsmaßnahme gegen Peniskrebs angesehen wurde: Auf Grundlage seiner "Beobachtungen" (in Wahrheit: Behauptungen), jüdische Männer bekämen niemals Peniskrebs, theoretisierte Wolbarst, dass diese Krankheit durch die "Ansammlung von pathogenen Produkten im Präputialsack“ verursacht würde.[49] Wolbarst hatte zwar keinerlei wissenschaftliche Beleg für seine Ansicht vorzuweisen, dennoch wurde auf der Grundlage seines Artikels die Behauptung, Smegma wäre karzinogen, in den USA weithin als eine erwiesene Tatsache angesehen.
1932 veröffentlichte ein Forschungsteam an der Universität von Pennsylvania unter der Führung von Dr. H.C. Bazett eine detaillierte anatomische Beschreibung der Innervation der Vorhaut. Sie stellten fest, dass sie Vorhaut von einem Netzwerk an Nerven und Nervenenden durchzogen wird und fähig ist, leichteste Berührungen und feinste Temperaturunterschiede zu registrieren.[50] Im darauf folgenden Jahr führte Dr. Glenn A. Deibert, vom Daniel-Baugh-Institut für Anatomie am „Jefferson Medical College“ eine ausführliche Untersuchung der Entwicklung der Vorhaut im Uterus durch und untersuchte den Prozess, durch den diese sich von der Eichel nach der Geburt trennt.[51] Deibert zeigte auf, dass die Verklebung der Vorhaut mit der Eichel weder „Phimose“ noch ein Geburtsfehler war, sondern eine normale Phase der Entwicklung des Penis. 1935 veröffentlichte der britische Anatom Richard Hunter an der „Queen’s University“ in Belfast eine ähnlich detaillierte Beschreibung der embryologischen Entwicklung der Vorhaut. Weil diese Befunde zweifellos nicht die herrschende Lehrmeinung von der Vorhaut als eine nutzlose, krankhafte Schadstelle, stützten, wurden alle drei Studien vom medizinischen Establishment vollkommen ignoriert.[52]
Die Gewinnspanne für Beschneidungen wuchs mit der Massenanfertigung und weiten Verbreitung der mittlerweile allgegenwärtigen Gomco-Klemme, die 1934 von Aaron Goldstein und Dr. Hiram S. Yellen erfunden wurde. „Gomco” ist die Kurzform für "Goldstein Manufacturing Company", die sich später in “Gomco Surgical Manufacturing Corporation of Buffalo, New York” umbenannte. Dieses grausame Utensil aus rostfreiem Stahl wird selbst heute noch weithin verwendet um die Vorhaut abzuklemmen und [von der Eichel] zu isolieren, so dass diese dann mit einem Skalpell abgeschnitten werden kann. Die Standardisierung dieser Operationstechnik erleichterte die schnelle Institutionalisierung der Neugeborenen-Beschneidung als ein routinemäßiges Krankenhausverfahren und führte zur allgemeinen Gewöhnung an das "High-and-tight"-Erscheinungsbild des Penis (da der Einsatz der Klemme üblicherweise ein Maximum an Gewebeverlust bewirkt), welches zunehmend als das „normale“ Aussehen des Penis betrachtet wurde.
Die September-Ausgabe 1941 des weitverbreiteten US-Elternmagazins „Parents“ enthielt den ersten veröffentlichten Artikel über einen angeblichen Nutzen der routinemäßigen Beschneidung, der jemals in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift mit breiter Leserschaft erschien. Autor war Dr. Alan F. Guttmacher, Frauenarzt an der medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-University, der der Öffentlichkeit viele der selben Mythen und Horrorgeschichten, die seit dem 19. Jahrhundert im Umlauf waren, auftischte. Wie seine Vorgänger gestand er ein, dass die Beschneidung eine "Abstumpfung der männlichen sexuellen Empfindlichkeit verursacht", stellte diese Einbußen aber (wie Hutchinson) als wünschenswert hin. Guttmacher zitierte nicht nur Wolbarsts vermeintliche Entdeckungen über den Peniskrebs, sondern wiederholte auch den verstaubten Hygienewahn aus der edwardianischen Ära (1901-1910), nämlich dass es notwendig wäre, die Eichel täglich abzuschrubben. [Genau dies ist in Wirklichkeit extrem schädlich.] Obwohl diese Klischees von den 1890ern bis in die 1930er in Ratgebern des britischen Weltreiches für Babypflege zu finden waren, wurden allerdings gerade in Großbritannien alle von Douglas Gairdner als Hirngespinste entlarvt. Für die amerikanische medizinische Fachliteratur waren diese überholten Gedankenkonstrukte aber neuartig, und als gerade erst ein besseres Verständnis der normalen Anatomie des Säuglings in Großbritannien triumphierte, wurden in den USA alte Wahnvorstellungen zementiert. Mit all der Autorität, die ihm sein beruflicher Titel und seine Verbindungen zu angesehen Einrichtungen verliehen, belehrte Guttmacher die Öffentlichkeit wie folgt:
„Die heutige Hygiene verlangt es, dass die Vorhaut, die mützenartige Hautfalte, die die Spitze des Penis (Glans) bedeckt hält, täglich zurückgezogen und die entblößte Eichel gründlich gewaschen wird. Probleme treten auf, wenn dies vernachlässigt wird, da die Sekrete der vielen Drüsen, die die Innenseite der Mütze bedecken, verkrusten, und dieses Material innerhalb weniger Tage eine Entzündung auslösen kann. Solch eine Entzündung kann zur Bildung von feinen, strangartigen Gewebsbändern zwischen der Innenseite der Vorhaut und der Eichel führen, die die beiden zusammenkleben, und so eine verwachsene Vorhaut bilden.“
Und so sehen wir, wie der viktorianische Mythos der „erworbenen Phimose“ im Raumfahrtzeitalter neuen Auftrieb bekommt. Um diesem furchterregenden Szenario vorzubeugen, riet Guttmacher Eltern dazu, ihre Jungs bei der Geburt beschneiden zu lassen, weil die Beschneidung die "Pflege des Penis für die Mutter einfacher mache", und weil sie, "kein Hantieren des Penis durch die Mutter des Säuglings oder in späteren Jahren durch das Kind selbst notwendig mache und so die Aufmerksamkeit des Jungen nicht auf seine eigenen Genitalien lenke. Der Fachmeinung nach ist dann die Masturbation [bei beschnittenen Jungen] seltener.” Guttmacher gelang es mit diesem Schüren von Ängsten, die natürliche, gesunde Vorhaut offiziell in Verbindung zu bringen mit schwieriger Körperpflege, unausweichlicher Masturbation, genitaler Missbildung und Vorbehalten, den Penis des Babys zu berühren. Sein Artikel diente auch zur Legitimation der immer häufiger werdenden Praxis großer städtischer Krankenhäuser, alle neugeborenen Jungen automatisch zu beschneiden, sogar ohne Rücksicht auf die elterlichen Wünsche [53-55].
Abraham Ravich war ein Urologe am „Israel Zion Hospital“ in Brooklyn und von dieser Position wurde er einer der radikalsten Kreuzzügler für die massenweise Zwangsbeschneidung seit Jonathan Hutchinson und Peter Charles Remondino. Indem er sich auf Wolbarsts Theorie von der Karzinogenität des Smegmas stütze und den Mythos von der Immunität jüdischer Männer gegen solche Krankheiten beschwor, postulierte er 1942 einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Vorhaut und Prostatakrebs. Er wiederholte ebenfalls die obskure Theorie, (die 1926 ohne den geringsten Beweis aufgestellt worden war [56]), dass der Gebärmutterhalskrebs der Frau durch das Smegma des Mannes verursacht würde.[57] Das Massenblatt „Newsweek“ berichtete wohlwollend über Ravichs Behauptungen und zitierte seine Forderung nach einer "noch universelleren Praktik der Beschneidung männlicher Neugeborener”.[58] Unter den vielen Leistungen, die er in einem Eintrag in das „Who's Who in America“* auflistete, rühmte sich Ravich selbst, der erste Mensch gewesen zu sein, der den Nutzen der Beschneidung zur Prävention von Genitalkrebs beschrieben habe.[59]
Durch die massenweise Rekrutierung und Einberufung während des 2. Weltkriegs wurden viele Männer der Macht von Militärärzten unterstellt, die die Befugnis hatten, eine Kampagne einer beinahe schon routinemäßigen Beschneidung aller Soldaten in allen Bereichen der Streitkräfte einzuführen. Selbst auf dem Höhepunkt des Krieges, erklärte der Marinearzt in den Seiten des „United States Naval Medical Bulletin“ [Ärztliches Mitteilungsblatt der US-Marine] voller Zuversicht, dass die Beschneidung(!) einer der am häufigsten durchgeführten chirurgischen Eingriffe in der Marine sei, und noch häufiger durchgeführt würde als chirurgische Eingriffe aufgrund von Verwundungen.[60] Militärärzte rechtfertigten die Kampagnen zur Massenbeschneidung damit, dass unter den Soldaten „Phimose- und Paraphimoseepidemien“ herrschen würden. Die zwangsrekrutierten Männer wurden regelmäßig durch unangekündigte Untersuchungen ihre Penisse (sogenannter „Kurzarm-Inspektionen“) gedemütigt, und viele, die noch nicht beschnitten waren, bekamen eine Phimose attestiert und wurden zur Beschneidung geschickt; wer sich der Anordnung widersetze, dem wurde mit dem Militärgericht gedroht.
Militärakten offenbaren, dass schwarze Amerikaner für die Verbreitung venerischer (= sexuell übertragbarer) Krankheiten im Militär verantwortlich gemacht wurden und deshalb zu einer bevorzugten Zielscheibe der Beschneidungskampagnen gemacht wurden. Militärärzte wie Eugene A. Hand (1909-1972), ein Dermatologe (Experte für Geschlechtskrankheiten) am Marinekrankenhaus St. Albans in New York, waren dafür verantwortlich, dass das Militär die Ansicht übernahm, dass Schwarze gefährliche Überträger von Infektionskrankheiten waren, und die niedrigere Beschneidungsrate unter ihnen der Hauptgrund dafür war. Captain Leonard Heimoff vom „US Army Medical Corps“ erklärte, dass "Negertruppen für 70% aller neuen Fälle von Geschlechtskrankheiten verantwortlich" wären, und er organisierte verdeckte Militärpolizeieinheiten um das Sexualleben schwarzer Zivilsten zu beobachten.[61] Heimoffs Bericht, wie jener von Hand und anderen, gipfelte in der Schlussfolgerung, dass man Schwarzen weder beibringen könne auf ihre Körperhygiene zu achten, noch vertrauen könne, Vorsichtsmaßnahmen gegenüber einer Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten zu ergreifen -vermutlich eine euphemistische Umschreibung für die Behauptung, sie wären zu dumm oder sexbesessen um Kondome zu benutzen.
Wo wird heute die Gesundheitspolitik von solch einer Annahme geleitet?
Der Krieg ging mit einer größeren landesweiten Obsession bezüglich Geschlechtskrankheiten einher. Von 1932 bis 1940 erhöhte sich die Anzahl an Artikeln über Geschlechtskrankheiten in Populärzeitschriften um 192% und noch einmal um einer jährliche Rate von 17% im Zeitraum zwischen 1940 und 1947. Später flaute die Hysterie langsam ab - vermutlich in Folge der Entdeckung einer effektiven Behandlung gegen Syphilis in Gestalt des Penicillins. Auf dem Höhepunkt dieser Hysterie verlas Hand während des jährlichen Treffens des Amerikanischen Ärztebundes im Juni 1947 einen Fachartikel mit dem Titel "Beschneidung und Geschlechtskrankheiten", in welchem er die Häufigkeiten von Geschlechtskrankheiten unter Juden, weißen Nichtjuden und Schwarzen verglich. Dabei vertrat Hand die Ansicht, dass Geschlechtskrankheiten bei jüdischen Männern selten waren und stellte die Theorie auf, die Beschneidung hätte einen bedeutenden Schutzeffekt:
„Die Beschneidung ist unter den Negern nicht weit verbreitet. … Viele Neger sind promiskuitiv. Die Neger sind nur selten beschnitten, haben wenig Wissen oder Angst vor venerischen Krankheiten, und sie betreiben die Promiskuität in fast schon einem Hornissennest der Infektionen.“[62]
In der gleichen Studie verstieg sich Hand zu der Behauptung, Zungenkrebs trete viel häufiger bei Männern mit Vorhaut auf als bei Juden. „Newsweek“ berichtete wieder ausführlich über diese sensationellen Befunde und nährte dabei die landläufige Vorstellung, dass eine Politik der Massen-Beschneidung [von männlichen Kindern] sowohl wissenschaftlich begründet als auch von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Sicherheit der Nation wäre.[63]
Im Dezember 1949 veröffentlichte der Kinderarzt Douglas Gairdner (1910-1992) aus Cambridge eine bahnbrechende Studie namens “The fate of the foreskin“. Indem er seine Forschungsarbeit auf Dreibert und Hunter stützte und seine eigenen sorgfältigen Studien über die Entwicklung der Verklebung und der Zurückziehbarkeit der Vorhaut präsentierte, widerlegte Gairdner den Phimose-Mythos und demonstrierte, dass die Nicht-Zurückziehbarkeit der Vorhaut der normale Zustand der kindlichen Vorhaut ist, und dass die Ablösung der Vorhaut von der Eichel sich langsam und allmählich während des Heranreifens des Jungen vollzieht. Seine Studie untersuchte auch die Standardliste angeblicher Vorteile der Beschneidung (Krebs, Syphilis) und entlarvte diese als fadenscheinig. Die Beschneidungspraktik in Großbritannien war seit den 1930ern rückgängig, seitdem die hohe Rate an Komplikationen und Todesfällen infolge von Beschneidungen die Besorgnis der Ärzte erregt hatte, und Gairdners Artikel versetzte ihr schließlich den finalen Todesstoß.[64] Seitens der neuen staatlichen Krankenversorgung, dem „National Health Service“, die 1948 eingerichtet wurde, wurde Eltern, die ihren Jungen beschneiden lassen wollten, erklärt, dass die Zirkumzision kein anerkannter Eingriff ist und falls sie darauf bestanden, die Beschneidung privat bezahlen müssten. Wie nicht anders zu erwarten ging daraufhin die Beschneidungsrate daraufhin rapide zurück.
In den USA hingegen wurde Gairdners Studie ignoriert und die unzeitgemäßen Mythen von Ärzten wie Guttmacher triumphierten stattdessen, in neuer Schale verpackt. Medizinische Lehrbücher beharrten sogar nach stärker darauf, dass Frauenärzte jeden neugeborenen Jungen untersuchen sollten um zu überprüfen, ob seine Vorhaut verklebt, nicht zurückziehbar oder zu lang sei, und eine sofortige Beschneidung durchzuführen, wenn sie Symptome solch einer "Phimose" vorfanden - was natürlich so gut wie immer der Fall war. 1953 veröffentlichten Richard L. Millers und Donald C. Snyder einen einflussreichen Artikel im American Journal of Obstetrics and Gynecology, in dem sie zur sofortigen Beschneidung aller Jungen gleich nach der Geburt aufriefen. Während sie Gairdner völlig ignorierten, dafür sich überwiegend auf die Schriften von Wolbarst stützten, beteuerten sie, dass "Phimose" einer sofortigen chirurgischen Korrektur bedürfe, und prahlten, die Beschneidung würde "die Häufigkeit der Onanie reduzieren", die männliche Libido verstärken, und "die Lebenserwartung und Immunität gegenüber fast allen körperlichen und geistigen Erkrankungen erhöhen.” Sie erklärten ferner, dass die Beschneidung unmittelbar nach der Geburt für den Arzt besonders bequem und im besten finanziellen Interesse des Krankenhauses sei. Bald darauf wurden führende Lehrbücher der Frauenheilkunde umgeschrieben, sodass sie Millers’ und Snyders Empfehlungen enthielten. [65, 66]
Während der Fünfzigerjahre, als die Syphilis dank des Penizillins unter Kontrolle war, eroberte Krebs seine Stellung als die meistgefürchtete Krankheit zurück. Von 1943 bis 1951 erhöhte sich die Anzahl an Abhandlungen über Krebs in Magazinen, Zeitschriften, Illustrierten um 182 Prozent, von 1951 bis 1955 um weitere 32 Prozent , von 1955 bis 1957 um noch einmal 72 Prozent. Parallel zu dieser erneuten und verstärkten Erregung öffentlicher Besorgnis veröffentlichte Ravich einen neuen Fachvortrag: "Prophylaxe von Prostata-, Penis-, und Gebärmutterhalskrebs durch Beschneidung”. Darin verstieg er sich zu der Behauptung, dass 25000 Todesfälle infolge von Krebs in Wirklichkeit allein von der Vorhaut verursacht würden, und dass zwischen 3 und 8 Millionen amerikanischer Männer, die damals lebten, allein durch den Einfluss ihrer Vorhaut an Prostatakrebs erkrankt gewesen wären. Als der Weisheit letzter Schluss befand Ravich, dass ein Programm der massenweise Zwangsbeschneidung notwendig wäre als eine "bedeutende Maßnahme der öffentlichen Gesundheit".[67] Ravichs Theorie über den Gebärmutterhalskrebs wurde wiederum von Dr. Ernest Wynder vom „Manhattan Memorial Centre for Cancer and Allied Diseases“ aufgegriffen, welcher 1954 eine recht voluminöse Studie herausbrachte, die vollmundig beschwor, die universelle nachgeburtliche Vorhautamputation an Jungen könne Gebärmutterhalskrebs bei Frauen eliminieren.[68] Wieder berichtete ein weit verbreitetes Nachrichtenmagazin (in diesem Fall das „Time Magazine“) wohlwollend über Wynders Behauptungen und verschaffte ihm damit sowohl Bekanntheit als auch blindes Vertrauen in seine Thesen, außerdem förderte es die öffentliche Unterstützung der wachsenden Beschneidungsindustrie.[69]
Währenddessen wurden sogar wieder ein paar Forderungen nach der Beschneidung von Frauen und Mädchen geäußert. Während den 1950ern verstärkten US-amerikanische Ärzte ihre Anstrengungen um die Beschneidung erwachsener Frauen populär zu machen - worunter in diesem Fall die Entfernung der Klitorisvorhaut als Hygienemaßnahme verstanden wurde. 1959 veröffentlichte Dr. W.G. Rathmann einen Artikel, indem er die weibliche Beschneidung als ein Heilmittel für psychosomatische Krankheit und Eheprobleme bewarb. Dabei nutzte er die Gelegenheit um für seine eben patentierte Frauenbeschneidungsklemme zu werben.[70]
Ebenfalls in den 1950ern stiegen von Unternehmen betriebene Krankenhäuser und Versicherungsgesellschaften in wachsender Anzahl in das nunmehr profitable Geschäft der routinemäßigen Neugeborenbeschneidung ein. Private Krankenhäuser führten Programme einer sofortigen und automatischen Beschneidung aller männlichen Neugeborenen ein, welche oft noch im Entbindungssaal durchgeführt wurde. 1950 wurden am „Kaiser Foundation“-Krankenhaus von 889 lebendgeborenen Jungen bereits 812 (=92%) sofort nach ihrer Geburt beschnitten.[71] Parallel dazu führten viele städtische Krankenhäuser die Verfahrensweise ein, alle Jungen zu beschneiden, die nach der Geburt intakt „davongekommen“ waren und nun wegen anderer häufig durchgeführter Eingriffe eingeliefert wurden, wie etwa Mandelentfernungen.
www.intaktiv.de veröffentlichte einen interessanten Artikel über die kurzlebige Routinebeschneidung im Volkspolizei-Krankenhaus Berlin (ehem. Berlin-Ost), das unter dem Einfluss von Otto Dietz stand. Insgesamt aber wurden Beschneidungen und Phimose-Operationen in der DDR erheblich seltener durchgeführt als in der alten West-Bundesrepublik. Anm. d. Red.
In den späten Fünfzigerjahren versuchte die amerikanische Beschneidungsindustrie ihre Praktik auch in Europa zu verbreiten, mit einem besonderen Fokus auf Ost- und Westdeutschland, wobei letzteres infolge der Nachkriegsbesetzung unter erheblichem US-amerikanischem Einfluss stand. Um 1957 errichtete die GOMCO-Corporation dort ein Verteilungsnetzwerk in Ulm (US-Zone)[72] und im gleichen Jahre kooperierte „Kaiser“ mit Otto Dietz, einem niederrangigen Mitarbeiter des berüchtigten Ostberliner Staatssicherheitdienstes, um die Beschneidung auch in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands einzuführen.[73] 1959 wurden 150 männliche Babys, die in einer staatlichen Klinik in Darmstadt im westzonalen Deutschland geboren wurden, experimentell ohne Betäubung als Werbemaßnahme für die GOMCO-Klemme zirkumzidiert [74]. 1963 erreichte Dr. H. Koester, dass die Geburtsklinik am Universitätsklinikum Gießen ein Programm der automatischen Beschneidung aller dort geborenen Jungen einführte, und zwar wieder mit der GOMCO-Klemme. 1968 wurde sogar eine weitere Demonstration ihrer Schnelligkeit und Effektivität im DDR- Deutschland arrangiert.[75]
Anfang der 1970er-Jahre waren die Experimente sowohl bei den Behörden der damaligen West-BRD als auch der DDR auf Missfallen gestoßen und wurden abgestellt. Prompt verlagerte GOMCO seine Zielrichtung jetzt auf Dänemark und arrangierte 1973 die Beschneidung von 18 männlichen dänischen Neugeborenen.[77] Erwartungsgemäß wurden die Resultate von der dänischen medizinischen Fachpresse gepriesen, einhergehend mit den Reklamefotos der Klemme. Die dänische Öffentlichkeit aber zeigte sich weniger beeindruckt und lehnte die Vorstellung entschieden ab, die Geschlechtsorgane ihrer Kinder aus irgendeinem Grund chirurgisch verändern zu lassen, und die Kampagne verschwand in der Versenkung.
Es ist offenkundig, dass die Versuche von GOMCO, die Beschneidung in Europa einzuführen, nichts mit Gesundheit zu tun hatte sondern einzig und allein kommerzielle Gründe hatte.
Die Zwangsbeschneidung von Jungen stieß aber auch auf gewissen Widerstand: 1956 und 1959 veröffentlichte Dr. Richard K. Winkelmann, Arzt für Dermatologie an der „Mayo Clinic“, zwei Studien, die den enormen Nervenreichtum der Vorhaut dokumentierten und deren spezifische erogene Zone identifizierten.[78, 79] In einer Zeit aber, die gegenüber sexuellem Vergnügen äußerst feindlich gesinnt war, wurden seine Studien vollkommen ignoriert. 1954 wurde Ravichs Theorie, wonach die Vorhaut Prostatakrebs verursache, widerlegt [80], und 1962 wurde die Hypothese, dass die Vorhaut Gebärmutterhalskrebs bei Frauen verursache, ebenfalls widerlegt.[81] 1963 widerlegte eine weitere Studie die Behauptungen Wolbarsts, dass Smegma karzinogen wäre.[82] Endlich wurde 1965 der Trend hin zur Skepsis gegenüber der Beschneidung ausgelöst, als das „Journal of the American Medical Association“ Dr. William Morgans Fachartikel mit dem provokanten Titel "The Rape of the Phallus" (die Vergewaltigung des Phallus) veröffentlichte. In dieser Analyse entkräftete er alle der damals aktuellen Argumente, mit denen Krankenhäuser die Zwangsbeschneidung von Jungen rechtfertigten, und löste eine Kontroverse innerhalb der amerikanischen Ärzteschaft aus, die bis heute andauert.[83]
Ein sogar noch bedeutenderer Artikel über „die Natur der Vorhaut bei Kindern und Jugendlichen“ wurde 1968 veröffentlicht. Das „British Pediatric Journal, Archives of Diseases of Childhood“, veröffentliche einen Bericht der ausführlichen Forschungsarbeit des dänischen Kinderarztes Jakob Øster, der die Häufigkeit natürlicher Vorhautverklebungen bei 9645 Jungen im Alter von 6-17 Jahren untersucht hatte.[84] Wie bei Gairdner widerlegten Østers Befunde den Phimose-Wahn und der Mediziner demonstrierte, dass die Verklebungen zwischen der Vorhaut und der Eichel kein Geburtsfehler wären, sondern eine vollkommen normale Phase der Penisentwicklung. Er zeigte weiterhin, dass die Ablösung der Vorhaut von der Eichel ein sehr langsamer biologischer Prozess ist, der häufig 10 Jahre oder noch länger andauert, ehe er abgeschlossen ist. Østers Forschungsarbeit belegte, dass bei normalen Fällen einer nicht zurückziehbaren Vorhaut keinerlei Eingreifen erforderlich ist, und, was noch viel wichtiger ist, dass unangemessene (gewaltsame) Versuche, diese Entwicklung voranzutreiben (z.B. indem man die Vorhaut von der Eichel reißt) beide dieser Strukturen verletzen und tatsächlich eine ebensolche Phimose verursachen kann, die durch solche Praktiken ja angeblich beseitigt werden soll. Østers Studie ist bis heute richtungweisend für das wissenschaftliche Verständnis der Vorhaut und wurde innerhalb der britischen und europäischen Ärzteschaft weithin gelesen; in den USA [wie in Deutschland und Österreich] jedoch weitestgehend ignoriert.
1970 aber entfachte Noel Preston mit seinem im „Journal of the American Medical Association“ veröffentlichen Artikel unter dem Titel "Wohin mit der Vorhaut?" den Funken, den Morgan ausgelöst hatte, zu einem Feuer.[85] Seine Darlegung entkräftete alle zur damaligen Zeit vorherrschenden Mythen einer angeblichen Notwendigkeit des Penisbeschneidens und motivierte die „American Acadamey of Pediatrics“ 1971 zu folgender revolutionärer Erklärung in der fünften Ausgabe ihrer ,Richtlinien und Empfehlungen für die Krankhauspflege Neugeborener bzw. Säuglinge’: „Es gibt keine stichhaltigen medizinischen Indikationen zur Zirkumzision in der Neugeborenenphase.” [86]
In den späten 1970ern, als sich die US-amerikanische Öffentlichkeit dem weit verbreiten Machtmissbrauch innerhalb der öffentlichen Institutionen ihres Landes mehr und mehr bewusst wurde, begannen Gegenbewegungen gegen die unfreiwillige Beschneidung amerikanischer Buben zu entstehen. Trotz Hohn bis zu offener Feindseligkeit seitens einer Überzahl empathieresistenter Ärzte begannen viele amerikanische Eltern sich zu weigern, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Fortschritte im Bereich der Medizinethik führten zu gleicher Zeit zur Einführung des Konzepts der ,informierten Einwilligung’ in die chirurgische Arena. Diese zwangen nun die Ärzte dazu, das wahrscheinliche Resultat jedweder Operation zu erklären, die bekannten Risiken offenzulegen, alternative Behandlungen anzubieten, und nicht zuletzt die schriftliche Zustimmung des Patienten einzuholen. Auch im Falle einer Beschneidung war jetzt ein Einwilligungsformular verlangt. Da aber die Person, an der operiert werden sollte, bekanntlich zu jung war, um ihre Zustimmung zu erteilen, behaupteten Vertreter der Beschneidungsindustrie postwendend, dass ja Eltern zu einer Beschneidung ihres Sohnes eine Stellvertreter-Einwilligung äußern könnten. Indem sie die Entscheidung für oder gegen eine nicht indizierte Penis-Modifikation als Wahlmöglichkeit der Eltern hinstellten, verschleierten Beschneidungsbefürworter die entscheidende Tatsache, dass der betroffenen Person selbst, die allen Risiken ausgesetzt wird und die schließlich die lebenslangen Konsequenzen der Operation ertragen muss, immer noch kein Stimmrecht in dieser Angelegenheit zugestanden wurde. Kritiker hielten dem entgegen, dass Ärzte keine rechtliche Autorität hätten, die Entscheidungsgewalt über die Genitalien des Kindes den Eltern zu übertragen, da Ärzte selbst keinerlei rechtliche Autorität über die Genitalien des Jungen hätten.
Ihren Höchststand erreichte die Rate unfreiwilliger Beschneidungen in den 1970ern. Mit oder ohne elterliche Zustimmung erhöhte das Vorgehen der Krankenhäuser die Beschneidungsrate unter neugeborenen Jungen auf 90% in den späten 1970ern und frühen 1980ern. Beschneidungsbefürworter aus den Ballungsräumen übernahmen Stellen in kleinen ländlichen Krankenhäusern im „Herzen Amerikas“ und führten neue Beschneidungsprogramme in Regionen des Landes ein, wo dies bis dahin unbekannt war.
Zu gleichen Zeit redeten angebliche Elternratgeber, populäre Medizinzeitschriften und medizinische Broschüren neuerliche Hirngespinste herbei, denen zufolge ein Junge, der nicht als Säugling beschnitten worden sei, schreckliche psychologische Schäden erleiden müsste, wenn er jemals herausfände, dass der beschnittene Penis seines Vaters anders aussieht als sein vollständiger eigener. [87-89] (Bezeichnenderweise wurde genau dieses Argument keineswegs zugelassen, als die Vätergeneration noch unbeschnitten war und dagegen der Junge seine Vorhaut einbüßen musste. Obwohl bekanntlich eine Person größere psychische Probleme mit einem abgetrennten Körperteil hat, den deren Vater noch besitzt, als im Gegenteil noch die „Luxusausstattung“ zu besitzen, um die der Vater gebracht wurde.) Ein weiterer Mythos, der die Ängste der Mittelschicht hinsichtlich Konformität und gesellschaftlichem Status besonders wirkungsvoll ausbeutete, war, dass sich ein unbeschnittener Junge angeblich komisch oder minderwertig fühlen würde in Gegenwart seiner beschnittenen Klassenkameraden im Umkleideraum der Schule.[90]
Gewissenhafte Informationen über die Anatomie und Physiologie der männlichen Vorhaut fehlten in US-amerikanischen Medizinlehrbüchern und wurden durch die Pseudowissenschaft der Beschneidungslobby ersetzt.[91, 92] [Das Gleiche trifft auch auf deutsche Medizinlehrbücher zu, die sich an amerikanischen Vorbildern orientieren.] Selbst anatomische Darstellungen des Penis in standardmäßigen urologischen Lehrtexten ließen die Vorhaut stillschweigend weg und zeigten den Penis als beschnitten, als ob er von Natur aus so wäre.[93] Die wenigen Zeichnungen der Anatomie eines natürlichen Penis, die verfügbar waren, stellten die Vorhaut auch noch fehlerhaft dar. Der normale, natürliche menschliche Penis wurde so zu einer merkwürdigen und fremdartigen Anomalie für die neue Generation von Amerikanern - gleichermaßen für Laien wie für Ärzte - von denen die meisten niemals einen unverstümmelten Penis gesehen hatten. Beispielhaft für die [bereits zur damaligen Zeit] veralteten Informationen, die amerikanischen Medizinstudenten vermittelt wurden, steht das folgende Zitat aus „Campbell’s Urology“ , —dem urologischen Standardlehrbuch, Ausgabe 1970:
„Phimotische Stenose verursacht extreme Schwierigkeiten bei der Miktion, einhergehend mit Gewebsspannungen und Geschrei; Hernien und Rektumprolaps sind mögliche Sekundärfolgen. Harnröhreninfektion ist eine häufige Komplikation, und wird häufig direkt durch die Präputialobstruktion (svw. „Blockade“ durch die Vorhaut) begünstigt. Fehlernährung, Nasenbluten, Krämpfe, Angstträume, Chorea und Epilepsie werden allesamt auf die Auswirkungen von Phimose zurückgeführt.“
In Übereinstimmung mit diesen geschürten Angstvorstellungen aus der Ära Edwards VII. (Regentschaft 1901-1910) riet das Lehrbuch auch zur Beschneidung als Präventionsmaßnahme gegen die Masturbation, denn die viktorianische Masturbationshysterie war in den US-amerikanischen Medizinlehrbüchern trotz der wissenschaftlich orientierten Siebzigerjahre immer noch allgegenwärtig:
„Eltern erkennen die Wichtigkeit von lokaler Reinlichkeit und genitaler Hygiene bei ihren Kindern bereitwillig an und sind gewöhnlich bereit Maßnahmen zu ergreifen, welche die Masturbation verhindern können. Aus diesem Gründen wird gewöhnlich zur Beschneidung geraten.“[94, 95]
Im Oktober 1972 ernannte die „American Academy of Pediatrics“ ein Komitee zur Ausarbeitung eines offiziellen Standpunktes zur Zirkumzision, um Orientierungshilfe auf Anfragen von Versicherungsunternehmen bezüglich Neugeborenenbeschneidung als möglichen Teil des Leistungskataloges ihrer Versicherungspolizzen zu bieten. Das Ergebnis wurde niemals offiziell veröffentlicht, aber die Schlussfolgerung wurde während einer A.M.A.-Konferenz im Juni 1973 inoffiziell von Dr. Thomas Guthrie vorgetragen: Er forderte, dass die Vorhautamputation an neugeborenen Jungen sogar noch stärker verbreitetet werden und weiterhin von den Versicherungen abgedeckt werden sollte.[96]
Nicht einmal die weibliche Beschneidung war vollständig aus der amerikanischen medizinischen Praxis verschwunden. 1973 veröffentlichte Dr. Leo Wollman, ein Gynäkologe am „Maimonides Hospital“ in Brooklyn, einen Artikel, in dem er die weibliche Beschneidung (in diesem Fall die Entfernung der Klitorisvorhaut) zur Behandlung von Frigidität bewarb.[97] Wollman drehte den Spieß einfach um und knüpfte geschickt an den Zeitgeist der sexuellen Revolution der 1970er-Jahre an, als sexuelles Vergnügen letztendlich doch als ein legitimer Teil des Lebens und sogar als ein Verantwortungsbereich der Ärzteschaft anerkannt wurde. Die chirurgische Modifikation der männlichen wie auch weiblichen Genitalien, so wurde neuerdings behauptet, würde die Qualität des Orgasmus verbessern. Das war das genaue Gegenteil der Botschaft, die ein Jahrhundert lang verkündet wurde, als man einen der größten „Vorteile“ der Beschneidung (korrekterweise) noch in ihrer Fähigkeit zur Reduzierung des sexuellen Empfindens sah. Die plötzliche Umkehrung des Arguments überzeugte Kritiker, dass Beschneidungsbefürworter gewillt waren einfach alles zu behaupten, um deren Genitalmodifikationen einer leichtgläubigen, aber mehr und mehr misstrauischen Öffentlichkeit aufzuzwingen.
Zu allem Überdruss für die Beschneidungslobby brachte die „American Academy of Pediatrics“ eine weitere Erklärung zur Beschneidung heraus, die zu folgendem Schluss gelangte:
„Es gibt keine absolute medizinische Indikation zur routinemäßigen Beschneidung des Neugeborenen... Ein Aufklärungsprogramm, das zu einer fortwährenden, guten Körperhygiene führte, würde mehr Vorteile als die Beschneidung bieten ohne die damit verbundenen Risiken. Deshalb kann die Zirkumzision des männlichen Neugeborenen nicht als essentieller Bestandteil einer angemessenen Gesamtgesundheitsfürsorge angesehen werden.“[98]
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In den Achtzigerjahren wurden sich viele US-amerikanischen Männer allmählich dessen bewusst, was ihnen als Säuglingen angetan worden war, und mehrere Klagen gegen Ärzte und Krankenhäuser in Kalifornien wurden angestrengt mit der Begründung, dass letztere die verfassungsmäßigen Rechte der Kläger verletzen hatten, indem sie ohne deren Einwilligung modifizierende Genitaloperationen an ihren vorgenommen hatten.[99, 100] Die Klagen wurden auch angestrengt um klarzustellen, dass Eltern kein Recht hatten und haben, einer medizinisch nicht indizierten Operation ihre Stellvertreterzustimmung zu erteilen. Die Geschädigten stützten sich dabei auf die offizielle Grundsatzerklärung von 1975, nach der eine Neugeborenenbeschneidung nicht medizinisch notwendig ist. Die Anerkennung, dass der Zirkumzision die medizinische Rechtfertigung fehlte, setzte von da an die Operateurinnen und Operateure dem Risiko eines späteren Gerichtsverfahren aus. Noch bedeutender war aber, dass die verfassungsmäßige Anfechtung der Legalität der Zwangsbeschneidung von Kindern drohte ein lukratives medizinisches Teilgeschäft zu zerstören, welches Schätzungen zufolge allein 1986 200 Millionen Dollar erwirtschaftete.[101] [Neuere Quellen schätzen den Umsatz der Beschneidungsindustrie in den USA auf mindestens 1,2 Milliarden $ pro Jahr] Wenn die Neugeborenenbeschneidung trotzdem gegen alle Widerstände weiterpraktiziert werden sollte, mussten also neue medizinische Vorwände dafür gesucht werden.
Mitte der 1980er lieferten Harnwegsinfektionen (HWI) diesen neuen Vorwand zur Beschneidung. Obwohl bis dahin zu dieser seltenen Krankheit niemals etwas in der öffentlichen Presse erschienen war, spiegelte die medizinische Fachliteratur nun das steigende Forschungsinteresse wider: Eine „Medline“-Suche ergab nur vier Veröffentlichungen über Harnwegsinfektionen für den Zeitraum 1966 bis 1974; 65 von 1975 bis 1979; aber 350 von 1980 bis 1984. Während sich die landesweite Häufigkeit von Harnwegsinfektionen in den Jahren 1966 bis 1989 nicht veränderte, ließ der erstaunliche Zuwachs um 8650 Prozent an publizierten Studien über diese Erkrankung eindeutig erahnen, dass Harnwegsinfektionen das nächste große Thema sein würden. Es sollte auch nicht lange dauern, bis wieder die Vorhaut beschuldigt wurde, ein Risikofaktor zu sein. 1982 veröffentlichten Dr. Charles Ginsburg und Dr. George McCracken einen Bericht über eine Studie an 100 Säuglingen mit akuten Harnwegsinfekten. Weil nur 3 der 63 Jungen beschnitten waren, spekulierten die Autoren, dass die fehlende Beschneidung die Anfälligkeit für dieses Leiden erhöhen könnte, obwohl sie zugeben mussten, dass die "Intimhygiene bei vielen Patienten nicht adäquat“ gewesen war.[102]
Offenbar von diesem Hinweis angestachelt, versuchte 1985 Dr. Thomas Wiswell, zum damaligen Zeitpunkt Neonatologe am „Brooke Army Medical Centre“ in Texas, diese Hypothese durch seine eigenen Studien zu stützen. Dieser veröffentlichte bald in der Fachzeitschrift „Pediatrics“ die erste aus einer langen Reihe von Studien, welche die Theorie bewarben, die Vorhaut erhöhe das Risiko für Harnwegsinfektionen und einzig die Zirkumzision stelle deshalb eine sinnvolle Präventivmaßnahme dar.[103] Wiswells erste Untersuchung der Krankenhausunterlagen ergab eine sehr niedrige HTI-Rate von 1,4 Prozent bei unbeschnittenen Jungen und 0,14 Prozent bei zirkumzidierten Jungen, obwohl er wichtige Faktoren unberücksichtigt ließ: Etwa, ob die Babys gestillt wurden (Muttermilch enthält wirkungsvolle Antikörper) oder die Tatsache, dass bei vielen unbeschnittenen Jungen die Vorhaut (schädlicherweise, aber der damaligen Lehrmeinung entsprechend) vorzeitig zurückgezogen worden war, sodass die Harnwegsinfektion erst iatrogen, also durch das Wirken des Arztes oder der Schwester, provoziert worden war. Aber solche unbequemen Fragestellungen wurden bewusst ausgeklammert. Obwohl der Unterschied zwischen beiden Gruppen sehr gering war (1,2 Prozentpunkte), ließ Wiswell ihn größer erscheinen, indem er ihn als zehnprozentigen Zuwachs verkaufte. Beschneidungseiferer und -schwärmer begrüßten die Resultate von Wiswells Studien als neue Indikation zur Beschneidung und als genau das, was sie brauchten, um den aufkeimenden juristischen und menschenrechtlichen Klagen gegen die aufgezwungenen Zirkumzisionen zu begegnen. Tatsächlich sprach in Reaktion auf Wiswells Studie eine Zuschrift die gerichtlichen Klagen sogar direkt an: Der Autor des Briefes, Dr. Aaron Fink (1926-1994), war ein Urologe vom Schlage eines Wolbarst oder eines Ravich und ein langjähriger Agitator für die universelle Beschneidung neugeborener Jungen. Zweifelsfrei verstörte ihn die Möglichkeit, dass Penis-Beschneider Gefahr laufen könnten, von ihren Opfern verklagt zu werden. Mit Hohn und Verachtung reagierte er auf die bloße Vorstellung, dass eine Beschneidung die Einwilligung der betroffenen Person erfordern sollte, an der sie letztlich durchgeführt wird.[104] In seinem Antwortschreiben darauf stimmte Wiswell der Patientenverhöhnung zu und postulierte, dass die medizinische „Begründung“, die er gefunden hatte, jegliche Notwendigkeit beseitigen würde, vor der Modifikation des männlichen Genitales eine Einwilligung [auch seitens der Eltern] einholen zu müssen.[105] McCracken dagegen war weniger überzeugt und kommentierte: „da die Langzeitergebnisse einer Harnwegsinfektion bei unbeschnittenen männlichen Säuglingen unbekannt ist“, sei es unangemessen, „zu diesem Zeitpunkt die Beschneidung als einen routinemäßig indizierten Eingriff zu empfehlen.“ [106] Nichtsdestotrotz nahmen medizinische Fachschriften wie auch Massenzeitschriften eilfertig Harntraktinfektion in ihre Liste der Gründe auf, warum männliche Babys beschnitten werden sollten.[107-109] Zeitschriften wie Newsweek, US News und World Report veröffentlichten Sonderberichte über Wiswells „Entdeckungen“ und priesen sie als die Abfuhr für all jene, die versuchten, der Beschneidung kleiner und großer Jungen ein Ende zu setzen.[110, 111] Da ohnehin sehr wenige Männer jemals in ihrem Leben einen Harnwegsinfekt haben, hatte dieser Harnwegsinfektions-Mythos nur geringen Einfluss auf die Väter. Doch haben Untersuchungen gezeigt, dass es viel häufiger als der Vater die Mutter war, die das Einwilligungsformular zur Beschneidung unterschrieben hatte.[112-114] Bei Mädchen treten unangenehme und schmerzhafte Anfälle von Harnwegsinfektionen bekanntlich um einiges häufiger auf [115, 116] und die neue Harnwegsinfektionen-Hysterie erwies sich als taktisch sehr wirkungsvoll um junge Mütter so weit zu ängstigen, dass sie der Beschneidung ihrer Söhne zustimmten.
Anders als sexuell übertragbare Krankheiten und Krebsarten, die Männer erst betreffen, sobald sie sexuell aktive Erwachsene geworden sind, können Harnwegsinfektionen theoretisch bei Säuglingen auftreten. Wiswells (für Laien kaum zu durchschauender) Schreckschuss, dass die Vorhaut eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit des Babys sei, ja sogar Gefahr für sein Leben in den ersten Wochen des Lebens darstelle sowie dass die Vorhaut Risiken für Komplikationen wie Nierenversagen, Hirnhautentzündung und Tod erhöhen konnte, alarmierte Eltern nachvollziehbarer Weise und überrumpelte sie dazu, ihren Neugeborenen schweren Herzens doch der delikaten Operation auszusetzen „einfach um auf Nummer sicher zu gehen“.[117-118] Auch in juristischer Hinsicht versuchte Wiswell das Blatt zu wenden und ins Gegenteil zu verkehren, indem er drohte, im Falle eines tatsächlich an Harnwegsinfektion erkrankten Babys den betreffenden Versicherer vor Gericht zu zerren, der seinerzeit seine Gelder nicht für eine Zirkumzision fließen hätte lassen. „Wenn es in zehn Jahren unbeschnittene Kinder geben könnte, die an der Dialyse hängten, könnten Versicherer, die die Kosten einer Beschneidung nicht übernommen hatten, haftbar gemacht werden“, polterte er.[119] Parallel dazu versuchte er es mit Charme: „Ich sage ihnen [den Eltern], dass ich persönlich den Eingriff nicht mag und nicht dazu rate, aber sofern der Wunsch nach dessen Durchführung besteht, ich ihn ausführen werde.“
Eine weitere Folge dieser Harnwegsinfektions-Hysterie war, dass er jene Kräfte innerhalb der A.A.P., welche sich ganz der Beschneidung verschrieben hatten, dazu veranlasste, für eine neue Grundsatzerklärung über die Zirkumzision zu agitieren. Bereits 1989 formierte sich eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Dr. Edgar Schoen, geboren 1925, Kinderarzt am ominösen „Kaiser Foundation Hospital“ in Oakland seit 1954 und ein entschiedener Befürworter der universelln Knabenbeschneidung. Nach heftigen Debatten veröffentlichte die Arbeitsgruppe eine neue und hochgradig zweideutige Erklärung, die Wiswells Harnwegsinfektionen-Hypothese berücksichtigte, aber nicht so weit ging, eine Rückkehr zur routinemäßigen Beschneidung zu empfehlen:
„Die Neugeborenenbeschneidung hat potentielle medizinische Vorteile wie auch Nachteile und Risiken. Wenn eine Zirkumzision in Betracht gezogen wird, sollten den Eltern die Vorteile und Risiken erklärt werden und eine informierte Einwilligung eingeholt werden.“ [120]
Indem sie das rechtliche Schlupfloch der Erklärung von 1975 schloss, schützte die neue Grundsatzerklärung einerseits nun die Beschneiderinnen und Beschneider vor späteren juristischen Klagen, während sie andererseits dafür auf Distanz zu offensichtlich unwissenschaftlichen oder unverifizierbaren Behauptungen hielt. Da Schoen der beachtenswerte Umstand sauer aufstieß, dass europäische Länder amerikanischen Versuchen, die Beschneidung dorthin zu exportieren, weitgehend widerstanden hatten, unternahm er (aus seinem Büro im „Kaiser Permanente Medical Centre“) den Versuch, nordeuropäische Länder dazu zu drängen, Programme zur routinemäßigen Beschneidung nach amerikanischen Vorbild einzuführen. [121] Die knappe Antwort auf seine Anbiederungsversuche, die zwei von Schwedens bestangesehenen Ärzten verfassten und in einer führenden schwedischen medizinischen Fachzeitschrift veröffentlichten, berief sich auf eine Reihe kritischer Fragen, die Schoen niemals in Betracht gezogen hatte: Gerechtigkeit, Menschenrechte und Medizinethik. Die Autoren verwiesen darauf, dass es eine Verletzung der Menschenrechte der Person ist, die solch einem heiklen Eingriff ohne ihre Einwilligung unterzogen wird, und erklärte aus diesem Grund, dass nur der Aufschub der Entscheidung über diese Angelegenheiten bis der Junge alt genug sei, seine eigene Entscheidung zu treffen, rechtlich einwandfrei sei. Die Autoren erklärten weiters, dass nicht einmal ein Ethikkomitee für Tierversuche jemals klinische Studien akzeptieren würde, bei denen die Versuchstiere ohne Betäubung beschnitten würden, geschweige denn könnte es Europa rechtfertigen, seine eigenen Kinder solchen Schmerzen und solchem Leid auszusetzen.[122]
Hinsichtlich der nun folgenden zwei Abschnitte gilt es zu beachten, dass diese Artikel 1995-1996 verfasst wurden, als der Gedanke, dass die Vorhaut einer der Hauptrisikofaktoren für die Erkrankung mit HIV/AIDs sein sollte, und die Beschneidung deshalb ein wichtiger Bestandteil der Anti-HIV-Strategie wäre, noch völlig abwegig und nichts weiter als die Spekulationen einiger Außenseiter war. Zur damaligen Zeit war nicht abzusehen, dass diese Vorstellung eines Tages von der gut dotierten internationalen AIDS-Forschungsindustrie aufgegriffen werden würde um mit ihren enormen Fördermitteln ausgerechnet die Beschneidung als „Lösung“ für das Immunschwäche-Problem in Afrika und möglicherweise anderen „unterentwickelten“ Gebieten der Welt zu propagieren. Was wir jedoch hiervon lernen können, ist die Regelmäßigkeit des historischen Musters: Sobald eine neue Krankheit in den Fokus öffentlicher Ängste rückt, behaupten der Beschneidung huldigende Kreise im Handumdrehen, dass wieder einmal die (verachtete, da schmerzlich entbehrte) männliche Vorhaut im Spiel wäre, und einfach mehr Zirkumzisionen das Wundermittel wären. Tatsächlich ist die Behauptung, dass Massenbeschneidungen notwendig wären, um AIDS unter Kontrolle zu bringen, eine Neuauflage der simplifizierenden und moralisierenden Herangehensweise des 19.Jahrhunderts, nach der die massenweise Beschneidung alles Männlichen notwendig wäre um die Syphilis unter Kontrolle zu bringen. In beiden Fällen versetzt also eine unheilbare Krankheit die Öffentlichkeit derart in Schrecken, dass sie bereit ist einfach alles zu glauben, was die Möglichkeit verheißt, die bürgerliche Sicherheit zu erhöhen ohne Notwendigkeit einer etwaigen Verhaltensreflektion.
Abgesehen von Bluttransfusionen, Tätowierungen, Operationen oder intravenösem Drogenkonsum ist die einzige Möglichkeit, AIDS zu bekommen, bekanntlich der ungeschützte Verkehr mit einem infizierten Partner. Die einfachste und sicherste Möglichkeit, kein HIV-Infektionsrisiko einzugehen, ist deshalb nicht-promiskuitiv zu leben, bzw. nur geschützten Geschlechtsverkehr zu betreiben (und nicht etwa diesen mehr oder weniger gehäuteter Eichel zu betreiben). Dieses Vorgehen hat in Ländern wie Australien, Deutschland, und Großbritannien die HIV-Infektionsrate auf einem niedrigen Stand gehalten, aber westliche Gesundheitsbehörden haben anscheinend die selbe Einstellung gegenüber Schwarzafrikanern wie Eugene Hand in den Vierzigerjahren gegenüber den amerikanischen Schwarzen: Man mutet ihnen nicht zu, Kondome zu benutzen, weil sie vielleicht zu „blöd“ und Sex-besessen wären um nicht-promiskuitiv zu sein?
Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass es teilweise kulturelle Vorwände gibt, die AIDS-Hysterie als das neueste Vehikel zu benutzen um die Beschneidungrituale innerhalb jener Kulturen beizubehalten, bei denen diese Gebräuche seit längerem nachweisbar sind. Die Steuermilliarden, die in die Weltgesundheitsorganisation WHO und UNAIDS gepumpt werden, verkörpern eine unheilvolle Verwicklung von US-amerikanischen Forschungsgeldern in afrikanischen Tribalismus und fundamentalistisch-muslimische Religiosität - allesamt Kräfte mit enormer Bereitschaft bis hin zur Besessenheit, immer neue und "wissenschaftliche" Rechtfertigungen zur Fortführung ihrer traditionsverhafteten Rituale zu finden.
In den frühen Achtzigerjahren verschaffte eine neue, gefürchtete Infektionskrankheit in Gestalt von HIV/AIDS (wie sie später genannt werden sollte) der Beschneidungslobby eine attraktive neue Gelegenheit, die Vorhaut als Auslöser dieser Krankheit zu brandmarken. Der erste, der diese Gelegenheit bei Schopfe packte, war der durch seine Babyverhöhnung aufgefallene Aaron Fink, der das „New England Journal of Medicine“ dazu zu brachte, seine Spekulation zu veröffentlichen, nach der die Präsenz der Vorhaut Männer anfälliger gegenüber der Infektion mache.[123] Auf Basis dieser Theorie forderte Fink 1987 und 1988 hindurch die kalifornische Ärztevereinigung CMA dazu auf, eine Resolution zu beschließen, die die routinemäßige Zirkumzision neugeborener Jungen als eine "effektive öffentliche Gesundheitsmaßnahme" empfiehlt. 1987 wurden seine Bestrebungen vom wissenschaftlichen Komitee der CMA noch abgelehnt, aber schon 1988 gelang es ihm, seine Resolution während eines CMA-Treffens mit einfacher Mehrheit verabschieden zu lassen.
Damit wurde ihm mäßige nationale Aufmerksamkeit zuteil (im Gegensatz zu seinen anderen Alibi-Beweggründen für Zirkumzisionen, als da waren „Gruppe-B-Streptokokkeninfektionen“ und „Sand-Balanitis” [124, 125] Derartig konstruierte Zusammenhänge waren selbst für die unkritischen US-amerikanischen Medien eindeutig zu abwegig.)
Finks Theorie über die Vorhaut, betreffend AIDS, wurde jedoch von anderen US-amerikanischen Beschneidungs-Schwärmern begierig aufgegriffen: Zu nennen sind hier Francis Plummer und Stephen Moses, die unaufhörlich global immer neue Babybeschneidungsprogamme unter dem Deckmantel der Präventionsmaßnahme gegen eventuelle HIV-Infektionen im späteren Erwachsenenleben einfädeln.
[Stephen Moses ist zusammen mit Robert C. Bailey der Hauptautor einer der zwei großen, 2007 in der „Lancet“ veröffentlichten, Studien, die von der WHO dahingehend ausgeschlachtet wurden, die massenweise "freiwillige" Beschneidung als „HIV-Prävention“ den Naturvölkern Afrikas aufzuoktroyieren und dort Programme zur massenweise Beschneidung von Männern, Kindern und Säuglingen zu finanzieren. Anm. d. Red.]
Seit den 1980er-Jahren beteiligen sich private Krankenhäuser am geschäftlichen Handel mit „gespendeten“ Vorhäuten. Die den wehrlosen Babys ungefragt amputierten („geernteten“) Vorhäute werden an private biologische Forschungslaboratorien sowie pharmazeutische Unternehmen verkauft, welche menschliches Gewebe als Rohmaterial zu Forschungszwecken verwenden wollen wie auch zur Herstellung von Kosmetikartikeln und künstlicher Haut. Die „Nachfrage“ nach den Vorhäutigen Minderjähriger erstreckt sich bis hin zu transnationalen Konzernen wie „Advances Tissue Sciences“ (San Diego), „Organogenesis“, „BioSurface Technology“ und anderen Unternehmen, die sich in jüngerer Zeit etablierten, um aus dem Verkauf von Produkten aus gezüchtetem menschlichem Gewebe Gewinne zu ziehen.[126-129]
Allen Versuchen von Schoen, Fink, Wiswell & Co. zum Trotz begann die hohe Zahl der Babybeschneidungen in den USA in den frühen Achtzigerjahren leicht zu fallen, und dieser Abwärtstrend beschleunigte sich in den 1990ern. Der Rückgang dieser „Beschneidungsraten“ war allerdings weniger die Folge von Grundsatzerklärungen der A.A.P., welche viele Ärzte ignorierten, sondern vielmehr das Ergebnis der Aufklärungsbemühungen seitens Kritikern von Genitalverstümmelung aus den Reihen der Ärzte selbst wie auch engagierter Betroffenen- und Laiengruppen.
Im Februar 1996 veröffentlichte eine Forschergruppe an der „University of Manitoba“ unter der Führung von Dr. John Taylor die Resultate der bisher wichtigsten Untersuchung der Anatomie und Physiologie der Vorhaut seit Winkelmann. Deren Publikation „The Prepuce: Specialized Mucosa of the Penis and Its Loss to Circumcision" [svw. „Die Vorhaut: spezialisierte Schleimhaut des Penis und ihr Verlust im Zuge einer Beschneidung"] beschreibt den exakten strukturellen Aufbau sowie die vielfältigen Aufgaben der Vorhaut und belegt ihre enorme Dichte an Nerven, Nervenenden und Blutgefäßen, die sich eindeutig dazu entwickelt haben, eine erogene Zone zu bilden und das erotische Erlebnis zu steigern. Da die Zirkumzision, wie anfangs zu lesen, ursprünglich propagiert wurde, um genau diese Eigenschaften zu unterdrücken, ist es befremdend, dass sich das medizinische Establishment nun sträubte, Taylors Arbeit anzuerkennen, geschweige denn sich den offensichtlichen Konsequenzen, die aus dieser Arbeit folgen, zu stellen. Andere Körperschaften immerhin wurden sehr wohl aufmerksam, einschließlich des „Australian College of Paediatrics“ oder der „Canadian Pediatric Society“ [Pädiatrie = Kinderheilkunde]. Letztere Fachgesellschaften veröffentlichten 1996 Grundsatzerklärungen, in denen sie empfahlen, keine Zirkumzision von Neugeborenen durchzuführen und darauf verwiesen, dass eine Beschneidung ohne informierte Einwilligung eine Verletzung anerkannter Prinzipien sowohl der Medizinethik als auch der Menschenrechte darstellt. [131, 132]
Zur gleichen Zeiten verurteilten auch prominente Persönlichkeiten aus der Ärzteschaft die amerikanische Praxis der routinemäßigen Beschneidung von Säuglingen sowohl als medizinisch unnötig als auch moralisch verwerflich. Der Konsens unter Kritikern lautete, dass, unabhängig von zweifelhafter Gültigkeit der für eine Beschneidung angeführten gesundheitlichen Argumente, allein schon die Tatsache, dass diese ohne Einwilligung des Operierten durchgeführt wird, eine Beschneidung zu einem unannehmbaren Eingriff in das persönliche Leben des Einzelnen und eine ungerechtfertigte Körperverletzung darstellt.[133-138] Der Grundsatzkonflikt zwischen Menschenrechten einerseits und dem Blickwinkel des US-amerikanischen Medizinerestablishments andererseits, das vorgibt, zu wissen, was für Jungen „gut“ sei, wird vielleicht erst auf gerichtlichem Wege zu bereinigen sein.
Die Geschichte der Beschneidung in der christlich-abendländischen Welt beginnt damit, dass im 19. Jahrhundert amerikanische Ärzte die genitale Verstümmelung sowohl von Knaben als auch von Mädchen zu institutionalisieren trachteten, mit dem Ziel, die kindliche Sexualität zu leugnen bzw. auszumerzen und sogar das Sexualleben des Erwachsenen einzuschränken (siehe die Selbstzeugnisse der propagierenden Ärzte). Deren Wahn und deren Experimente haben die männliche Kindheit in den USA des 20.Jahrhunderts maßgeblich geprägt, bei den Mädchen immerhin weniger nachhaltig, da nach einigen Jahrzehnten verschont.
Ärzte beschnitten demnach kleine Jungen um deren Penis zu entblößen, zu desensibilisieren und seine Funktionen einzuschränken, damit die Masturbation unmöglich oder zumindest nicht ihrer Mühe wert wurde. Es muss die Frage erlaubt sein, ob ein weiteres Motiv nicht sogar darin bestand, den natürlichen kindlich-männlichen Stolz auf sein augenfällig hervorstehendes Genital zu brechen, da immer weniger gesellschaftsfähig. Bis auf den letztgenannten Grund wurde auch die Klitoridektomie an Mädchen aus denselben Beweggründen eingeführt. Während medizinische Karrieremacher und Emporkömmlinge seit der viktorianischen Ära notorisch die öffentlichen Ängste vor der Masturbation schürten, um die Massenbeschneidung zu rechtfertigen, folgten die im Nachhinein gelieferten Vorwände seither einem klar definierten Strickmuster: Welche gefürchtete Krankheit auch immer zur jeweiligen Zeit im Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit steht, missbrauchen die Beschneidungsbefürworter diese als Begründung, um deren „Wundermittel“, die Zirkumzision, anwenden zu dürfen. In den 1870ern, als die Epilepsie jene gefürchtete Krankheit der Zeit war, behaupteten die Eiferer der Penisverstümmelung, eine Beschneidung könne Epilepsie sowohl heilen als auch verhindern. In den 1940ern, als Geschlechtskrankheiten im Brennpunkt öffentlicher Hygieneängste standen, behaupteten sie eine Beschneidung könne der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten vorbeugen. In den 1950ern, als die Furcht vor der Krebs einen Höhepunkt erreicht hatte, gaben die Feinde der Selbstbestimmung vor, eine Ablatio Praeputii könne allen möglichen Arten von Krebs vorbeugen, als da wären Peniskrebs, Zungenkrebs, Prostatakrebs, und Gebärmutterhalskrebs. Seit den späten 1980er-Jahren, als HIV/AIDS als größte gesundheitliche Bedrohung seit dem Schwarzen Tod wahrgenommen wurde, beschworen die Beschneidungsadvokaten, wie nicht anders zu erwarten, die Vorhaut-Amputation als die Lösung zur Kontrolle der AIDS-Epidemie.
Bezeichnenderweise haben gerade die USA mit ihrer erdrückenden Mehrheit beschnittener Männer und Jungen, all diesem Menschheitsbetrug zum Trotz, keine besonders gute Gesundheitsbilanz vorzuweisen. Was die meisten Gesundheitsindikatoren betrifft, liegen sie weit hinter Ländern wie Japan oder den skandinavischen Staaten, wo die Beschneidung beinahe unbekannt ist, zurück. Die USA haben heute nicht nur einen der höchsten Anteil sexuell aktiver beschnittener Männer, sondern auch eine der höchsten Raten an genitalen Krebserkrankungen und Geschlechtskrankheiten in der westlichen Welt. Das Paradoxe an dieser Geschichte ist, dass obwohl sich Massenbeschneidung völlig wirkungslos als öffentliche Gesundheitsmaßnahme gezeigt hat die US-amerikanische Ärzteschaft verbissen an der Knabenbeschneidung festhielt und fortwährend versuchte neue Rechtfertigungen dafür zu finden. Ihr vorrangiges Ziel scheint demnach weniger die Maximierung der öffentlichen Gesundheit zu sein, als vielmehr die Maximierung der persönlichen [lukrativen] Vorhauternte.
Die Geschichte der Institutionalisierung der Zwangsbeschneidung in den USA zeigt entsetzlich klar, dass die amerikanische Gesellschaft lange Zeit willens war, das, was sie für wissenschaftliche Maßnahmen hielt, auf Kosten der persönlichen Freiheit anzuwenden. Solch ein beständiges, unwissenschaftliches Festhalten einem schädlichen und obendrein unwirksamen chirurgischen Eingriff, während gleichzeitig der gesunde Menschenverstand konservativere wie effektivere Strategien zur Krankheitsprävention zu verfolgen gebietet, deutet außerdem darauf hin, dass die Beschneidungsbefürworter wahrscheinlich von einer tiefergehenden, nichtrationalen Dynamik angetrieben werden.[139]
Ursprünglich veröffentlicht als:
Hodges F.: A short history of the institutionalization of involuntary sexual mutilation in the United States. In: Denniston GC, Milos MF, editors. Sexual Mutilations: A Human Tragedy. New York: Plenum Press; 1997, S. 17-40.