Dr. Refaat B. Karim, plastischer Chirurg Onze Lieve Vrouwe Gasthuis Amsterdam, ehemaliger Vorsitzender der Niederländischen Vereinigung für Plastische Chirurgie. | Während die Unterstützung für das Verbot aller Formen der Mädchenbeschneidung breit ist, wird die gleiche Operation bei Jungen akzeptiert. Auch sanktioniert der Gesetzgeber diese Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und des kulturellen Hintergrundes nicht. Die Folge ist eine heuchlerische Atmosphäre.Auf Veranlassung der Inspektion für das Gesundheitswesen unterstützt die Niederländische Gesellschaft für Plastische Chirurgie (NVPC) ein vollständiges Verbot von kulturellen, traditionellen oder religiösen Mädchen- und Frauenbeschneidungen[1]. Sie schlossen sich hiermit der früher eingenommen Position der Niederländischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde (NVOG), der KNMG, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der niederländischen Regierung an. Dieses weitreichende Verbot erstreckt sich auf alle Formen der Mädchenbeschneidung, einschließlich der beiden an wenigsten verstümmelnden Formen: ein Einstich oder Einschnitt in die Klitorisvorhaut, und das Abschneiden eines Randes der Klitorisvorhaut. ZirkumzisionGenauso wie die Mädchenbeschneidung von einem Einstich bis zu einer pharaonischen Beschneidung reichen kann, werden Jungen in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise beschnitten (siehe Tabelle). Die überwiegend von Muslimen durchgeführte Variante, bei der nur die Spitze des inneren und äußeren Vorhautblatts abgeschnitten wird, ist die am häufigsten vorkommende Form der Typ-I-Jungenbeschneidung. In der jüdischen Tradition wird diese Form der Beschneidung (Mila) durch das Einschneiden oder Einreißen des noch auf der Eichel verbleibenden inneren Vorhautblatt (Periah) erweitert. |
Die Position der Regierung, dass unser Rechtssystem keinen Platz für irgendeine Form von Mädchenbeschneidung lässt, stützt sich mehr auf moralischen als auf juristischen Argumenten. Was die moralischen Argumente betrifft, so verweist die Regierung allein auf „die vorherrschenden Auffassungen in den Niederlanden“. Der Ausschuss zur Bekämpfung der weiblichen Genitalverstümmlung, die diese Position vorbereitet hat, kam auch nicht viel weiter als, dass „die Auffassungen darüber, welcher physischer Schaden noch hinnehmbar und welcher nicht mehr tolerierbar ist, (...) unter anderem durch die herrschenden sozialen und kulturellen Ansichten in der Gesellschaft bestimmt werden (...)“.
Auch die juristische Argumentation ist lückenhaft. Auffallend ist, dass der Gesetzgeber keine Verbindung mit der Verfassung herstellt, die besagt, dass Diskriminierung aufgrund der Religion, Weltanschauung, Rasse, Geschlecht, oder aus jeglichen anderen Gründen, nicht erlaubt ist. Übereinstimmend legte die Europäische Union im Vertrag von Lissabon fest, dass die Mitgliedsstaaten die Gleichstellung von Männern und Frauen und den Schutz der Rechte des Kindes fördern wollen. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verbietet jedwede Diskriminierung, etwa nach Rasse, Geschlecht, Religion, nationaler oder sozialer Herkunft oder Geburt.
Dennoch sah die niederländische Regierung im Jahr 2004 in Person des Justiz- und des Gesundheitsministers keinen Grund, die Beschneidung von Jungen unter Strafe zu stellen. Das einzige Argument hierfür war, dass diese Operation nicht als verstümmelnd angesehen werde und keine negativen Auswirkungen auf die physische und psychische Funktionsfähigkeit habe.
Die Beschneidung von Jungen wird erlaubt, weil der Eingriff, sofern er fachgerecht ausgeführt wird, nur sehr wenige Risiken mit sich bringe. Wenn das stimmt, würde dies gleichsam für die In- oder Zirkumzision der Vorhaut der Klitoris gelten.
Auch psychisch würde die Beschneidung von Jungen in jungen Jahren kaum Folgen haben. Das Argument aber, dass die Schmerzwahrnehmung bei Neugeborenen geringer wäre, ist überholt. Außerdem ist die Schmerzempfindlichkeit bei beschnittenen Jungen im späteren Leben signifikant höher als jene unbeschnittener gleichaltrigen Jungen. Wurde die Beschneidung ohne Betäubung durchgeführt, dann ist die spätere Schmerzempfindlichkeit sogar noch höher.
Beschneidungen, nachdem sich bei Jungen im zweiten Lebensjahr, im Zusammenhang mit dem Vorhandensein eines Penis, die Geschlechts-Identität entwickelt hat, können zu psychosexuellen und -somatischen Traumata führen. Wie die Mädchen, die beschnitten werden sollen, leben ältere Jungen in der Zeit vor ihrer Beschneidung mit einem Gefühl der Aufregung, die an dem Tag der Beschneidung Angst und Schmerzen weicht. Später wird die schmerzhafte Erinnerung an die Beschneidung durch den Stolz, den Eingriff durchgestanden zu haben, die Akzeptanz durch die Gemeinschaft und den Beitritt zur eigenen Gruppe abgemildert.
Feministische Autorinnen verweisen auf den repressiven Charakter der Beschneidung von Mädchen in patriarchalischen Gesellschaften. Mädchen wären ungeschützt oder würden sich sogar von ihren Müttern verraten fühlen, wenn diese dem schmerzhaften Eingriff zustimmen. Das Gleiche gilt für die Beschneidung von Jungen. Die Autorin Miriam Pollack argumentiert, dass die Beschneidung von neugeborenen Jungen zu einem tiefen Misstrauen gegen ihre Mutter führt und die Beschneidung von Jungen sollte daher als ein im wesentlichen äußerst frauenfeindliches, männliches Bonding-Ritual angesehen werden.
Eine Beschneidung aus kulturellen, traditionellen oder religiösen Gründen hat per Definition keine medizinische Indikation. Dennoch wird dieser Eingriff auf verschiedenste Weise rationalisiert und medikalisiert, seit der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (± 25 v. Chr. -. ± 45 n. Chr.) als erster hygienische Begründungsversuche für die Praktik lieferte. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen immer wieder, dass es keine überzeugenden medizinischen Argumente gibt, um die Jungenbeschneidung rechtfertigen zu können.
Zwar ist die Beschneidung bewiesenermaßen eine Präventionsmaßnahme gegen Harnwegsinfektionen von Neugeborenen, besonders bei männlichen Säuglingen mit angeborenen Fehlbildungen der Harnwege. Aber um während des ersten Lebensjahres bei nur einem einzigen Jungen eine Harnwegsinfektion zu verhindern, müssten 100 Jungen beschnitten werden [2]. Zudem können solche Infektionen medizinisch und gegebenenfalls durch einen vorhauterhaltenden Eingriff behandelt oder verhindert werden.
Die Beschneidung von Jungen ist auch als Präventionsmaßnahme gegen Peniskrebs überflüssig. Das Waschen der Eichel und der Innenseite der Vorhaut ist ausreichend. Um jährlich einen neuen Fall von Peniskrebs zu verhindern, müssten rund 300.000 Zirkumzisionen durchgeführt werden [3]. In Amerika sterben jedoch jedes Jahr mehr Jungen an den Folgen der Beschneidung als Männer an Peniskrebs. Eine ähnliche Argumentation gilt auch für die Jungenbeschneindung zur Prävention von Gebärmutterhalskrebs.
Die Wirkung der männlichen Beschneidung zur Vorbeugung der HIV-Übertragung von Frauen zu Männern ist immer Gegenstand von Diskussionen. Kürzlich veröffentlichte Studien zeigen deutlich einen positiven Kurzzeiteffekt der Zirkumzision bei zwei Gruppen aus kenianischen und ugandischen heterosexuellen erwachsenen Männer [4, 5]. Weitere Forschungsarbeit ist notwendig, um festzustellen, ob dieser Effekt auch auf lange Sicht besteht, und ob die Ergebnisse auch auf Länder außerhalb des ostafrikanischen Untersuchungssitutation extrapoliert werden können. Selbst falls dies der Fall sein sollte, ist dieser Effekt kein Argument für die Beschneidung von nicht-geschlechtsreifen Jungen. In der Tat hat die Beschneidung von Jungen in Afrika bereits zu einer höheren Inzidenz von HIV-Infektionen unter jungfräulichen Jungen geführt.
Im Einklang mit der Position amerikanischer, australischer, britischer und kanadischer Ärzteverbänden urteile die KNMG daher, dass die kulturelle Beschneidung von Jungen keinen gesundheitlichen Vorteil bietet und keinem therapeutischen Zweck dient.
Im niederländischem Recht wird den individuellen Rechten gegenüber den kollektiven oder Gruppenrechten Priorität gegeben. Die Amsterdamer Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Edien Bartels kam im Jahr 1998 jedoch zu dem Ergebnis, dass dies offenbar unterschiedlich gehandhabt wird, je nachdem, ob es um Männer oder Frauen, Einheimische oder Migranten, oder um ein verständliches oder weniger verständliches Motiv geht. Kollektive Rechte setzen sich im Falle eines positiven Image (Beschneidung von Jungen) durch, während die individuellen Rechte sich im Falle eines negativen Images (Beschneidung von Mädchen) durchsetzen. Bei der Mädchenbeschneidung geht es zudem um neue Immigrantengruppen, während die Beschneidung von Jungen bereits von „alten“ (jüdischen und muslimischen) Immigrantengruppen praktiziert wurde.
Die Arbeitsgruppe für Gesundheitsrecht des niederländischen Juristen-Komitees für Menschenrechte urteilte, dass diese Unterschiede juristisch gesehen irrelevant sind und dass die Regierung konsistent handeln müsse. Wenn die Argumentation, die der Position der Regierung gegenüber alle Formen der Mädchenbeschneidung zu Grunde liegt,umgesetzt werden würde, ist die einzige juristisch-konsistente Konsequenz, dass auch alle Formen der Beschneidung von Jungen verboten werden sollten. Auf der Grundlage der des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es nicht möglich, dass Gruppen, die länger oder stärker verwurzelt in der Gesellschaft sind, mehr (Vor)rechte genießen als Neuankömmlinge.
Um der aktuellen diskriminierenden Situation Abhilfe zu schaffen haben wir in der Theorie vier Möglichkeiten. Ernstens könnte das allgemeine Verbot aller Formen von Mädchenbeschneidung beibehalten werden, vorausgesetzt, dass alle Formen der Jungenbeschneidung ebenfalls verboten werden. In einer Welt, in der schätzungsweise 500 bis 700 Millionen beschnittene Jungen und Männer leben, scheint das nicht realistisch.
Zweitens, könnten beiden am wenigsten verstümmelnden Formen der Mädchenbeschneidung ebenso wie die häufigste Form der Jungenbeschneidung immer noch als akzeptabel angesehen werden. Mulder, der dies bereits vor der Einführung des allgemeinen Verbots befürwortete, verteidigte diese Möglichkeit vor kurzem im Medisch Contact [6, 7] Weltweit sind schließlich schätzungsweise 100 bis 140 Millionen Mädchen und Frauen beschnitten. Gremien, die alle einen Standpunkt eingenommen haben, werden jedoch nicht geneigt sein, hierauf dann teilweise wieder zurückzukommen.
Ein vollständiges Verbot der Beschneidung bei allen Minderjährigen ist vielleicht eine Alternative. Dies steht im Einklang mit der Position der NVOG und der NVPC, dass medizinisch nicht-notwendige chirurgische Eingriffe am Genitalbereich, nicht stattfinden dürfen, bevor das betreffende Gebiet nicht ausgewachsen ist. Dies ist meistens nur ab etwa dem 18. Lebensjahr der Fall. Wenn außerdem ein Verbot aller Formen der Beschneidung, die über die In- oder Zirkumzision der Vorhaut bei Männern oder Frauen erhalten bleibt bzw. eingestellt wird, steht es erwachsenen Frau oder dem erwachsenen Mann frei, sich für eine eingeschränkte Form der Beschneidung zu entscheiden.
Zu guter Letzt könnten wir die ungleiche und heuchlerische Art der Diskriminierung zwischen Jungen und Mädchen fortbestehen lassen. Angesichts der Art der Politik, könnte es für diese Option wohl die größte Unterstützung geben.
Zusammenfassung
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Zitierweise des niederländischen Originalartikels: