Die Genitalorgane sind bei der Geburt noch nicht voll entwickelt. Ihr Wachstum und ihre Entwicklung dauert die Pubertät hindurch bis ins Erwachsenenalter an. Dieser Artikel und die darin zitierten Studien und Artikel bieten Information über die normale Entwicklung der Vorhaut. Ferner bietet dieser Artikel eine Übersicht über sämtliche Studien zur Entwicklung der Zurückziehbarkeit der Vorhaut . Die Studien zur Vorhautentwicklung werden chronologischer Reihenfolge vorgestellt.
Das normale Wachstum bzw. die normale Entwicklung der männlichen Vorhaut wird sowohl von großen Teilen der Ärzteschaft, als auch Eltern vielfach falsch verstanden. Dieses Missverständnis hat zweifellos zu vielen unnötigen, fälschlich indizierten Beschneidungen kleiner Jungen geführt.
Der Normalbefund bei der Geburt des Jungen ist seine sehr lange Vorhaut mit einer verengten Spitze.(1,2) Ein Zurückziehen der Vorhaut ist bei fast allen Säuglinge nicht möglich, weil die verengte Spitze nicht über die Eichel passt. Darüber hinaus ist die Schleimhautoberfläche der inneren Vorhaut mit der darunterliegenden Schleimhautoberfläche der Eichel verklebt. (1, 2, 3, 8) Auch diese natürliche Verklebung macht ein Zurückziehen der Vorhaut unmöglich. Diese normale entwicklungsbedingte Enge wird manchmal fälschlich als Phimose diagnostiziert. Tatsächlich ist die normale, entwicklungsbedingte Enge keine Krankheit. Sie ist einfach ein natürlicher Entwicklungszustand
Die Verklebung der Vorhaut mit der darunterliegenden Eichel wird manchmal fälschlich als „Verwachsung“ bezeichnet. Die Verklebungen der Vorhaut mit der Eichel lösen sich in seltenen Fällen bereits mit 3-5 Jahren, fast immer aber dauert es länger. Eine große Zahl Studien aus unterschiedlichen Ländern belegten unabhängig voneinander, dass dieser normale Ablösungsprozess bei einigen Jungen bis zum Ende der Pubertät andauern kann.
Wenn der Säugling zum Jungen und der Junge zum Mann heranwächst, treten eine Anzahl Veränderungen auf: Die Vorhautspitze weitet sich, der Penisschaft wächst schneller als die Vorhaut, wobei sich der Vorhautüberstand verringert. Die Membran, welche die inneren Vorhaut mit der Eichel verbindet, löst sich von allein auf und ermöglicht so der Vorhaut sich von der Eichel zu lösen. Die Vorhaut wird somit von allein zunehmend zurückziehbar.
Viele Ärzte auch in den deutschsprachigen Ländern werden über die normale Entwicklung der Vorhaut unzureichend ausgebildet. Folglich diagnostizierten immer wieder Ärzte fälschlich einen normalen, entwicklungsbedingten Zustand als „Phimose“.(5)
Zahlreiche Ärzte erhielten nie diese Fülle an Informationen über die Entwicklung der Vorhaut, weil dieses Detailwissen nicht Teil des Standardlehrplans ihres Medizinstudiums war. Solche Ärzte sind natürlicherweise unfähig, eine normale, entwicklungsbedingte Vorhautenge (wie hier beschrieben) von einer krankhaften, therapiebedürftigen pathologischen Phimose zu unterscheiden. Auch können solche Ärzte nur falsche Angaben machen, ab wann die Vorhaut zurückziehbar sein sollte.(5) Solche Ärzten können diverse, viel zu frühe ( „bis zum 3 Lebensjahr“, „bis zur Einschulung“, „vor der Pubertät“) angeben, bis zu diesen eine Vorhaut „unbedingt“ zurückschiebbar sein müsse. Auch können solche nur unzureichend ausgebildeten Ärzte bestrebt sein, die Vorhaut vorzeitig zurückzuziehen, was einerseits traumatisch für die kindliche Psyche ist, andererseits auch ein Gewebstrauma am Penisgewebe auslösen kann.(5)
Die Vorhaut enthält Muskelfasern, die die Vorhautspitze verschlossen halten, solange das Kind nicht uriniert.(4) Dies kann Eltern und Ärzte dazu verleiten die Öffnung für kleiner zu halten, als sie in Wirklichkeit ist.
Es gibt eine Entwicklungsphase, in der sich bei manchen Jungen die Vorhaut „balloniert“. Ballonierung ist das Aufblähen der Vorhaut beim Wasserlassen, infolge des Drucks des Urins. Dies kann geschehen, wenn sich die innere Vorhaut gerade von der Vorhaut löst, oder gerade gelöst hat, was typischerweise im dritten Lebensjahr passiert, bevor die Vorhaut vollständig zurückschiebbar wird. Ballonierung ist ein Hinweis darauf, dass die normale Ablösung der Vorhaut von der Eichel eingesetzt hat. Diese Ballonierung ist ein vorübergehender Zustand, der von allein verschwindet, während die Vorhaut ihr Wachstum und ihre Entwicklung fortsetzt, und sich die Vorhautöffnung an der Spitze sukzessive ausweitet. BABU et al. belegen, dass die Ballonierung die Blasenentleerung nicht behindert. (15) Die Ballonierung ist nicht gesundheitsschädlich, und ist somit kein Grund zur Sorge. Die Ballonierung ist erst recht keine Indikation für eine Zirkumzision.
Die Entwicklung des Penis kann viele Jahre andauern, ehe sie vollendet ist. Jeder Junge entwickelt sich in seiner individuellen Geschwindigkeit. Die Entwicklung der Vorhaut dauert sogar über die Pubertät hinaus an, wie weiter unten beschrieben wird.
Douglas Gairdner, ein britischer Kinderarzt, observierte 100 Neugeborene und rund 200 Jungen bis zum Alter von 5 Jahren.(2)
Gairdners Ergebnisse sind in der unteren Tabelle dargestellt:
Gairdners widerlegte Daten zur Vorhautentwicklung | ||
Alter | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Vorhaut komplett zurückziehbar |
0-28 Tage | 96% | 4 % |
1 Jahre | 50% | 50% |
2 Jahre | 15% | 75% |
3 Jahre | 10% | 90% |
4 Jahre | 9% | 91% |
Gairdner merkte auch an, dass die Ablösung in diesen Altersgruppen unvollständig ist und diese unvollständige Ablösung die Ursache einer nicht zurückziehbaren Vorhaut darstellt. Er forderte, dass die Oberflächen nicht auseinander gerissen werden sollten, weil das Blutungen und Infektionen verursachen könne.
Gairdners Werte über die Prozentanteile der Zurückziehbarkeit der Vorhaut, die noch in den 1940ern erfasst wurden,(2) gelten heute als zu hoch.(7, 12,13) Spätere Studien (3,8, 11, 16, 17, 18, 19) haben gezeigt, dass im Alter von 10 Jahren nur ungefähr 40-50% der Jungen eine vollständig zurückziehbare Vorhaut besitzen. Diese Studien werden weiter unten genauer beschrieben.
Bedenklicherweise haben Gairdners falsche Werte zur Vorhautentwicklung einen bleibenden Eindruck auf die medizinische Fachliteratur, auch auf die Deutschsprachige, hinterlassen.
Siehe: Der Gairdner'sche Fehler und Veraltete Angaben in Lehrbüchern und Leitlinien:
⇒Jakob Øster Studien-Bericht in der deutschen Übersetzung
Die normale Entwicklung der Vorhaut über das 5. Lebensjahr hinaus wurde das erste Mal von Jakob Oster, einem dänischen Kinderarzt, untersucht, der seine Arbeit 1968 veröffentliche.(3)
In seiner Funktion als Schularzt war Øster für die körperliche Untersuchung einer großen Anzahl Jungen im Schulalter verantwortlich.
Øster untersuchte die Vorhautentwicklung bei 1968 Schulungen im Alter von 6 bis 17 Jahren während eines Zeitraums von 8 Jahren.
Er stellte die Befunde in seinem Artikel auf eine etwas schwer verständliche Weise vor. So unterteilte er seine Befunde separat in „Phimose“, „enge Vorhaut“ und „Adhäsionen“. In der Praxis verhindern aber alle diese Zustände ein ungehindertes Zurückziehen der Vorhaut, daher müssen die Werte dieser drei Zustände addiert werden, um den Prozentanteil der Jungen mit nicht vollständig zurückziehbarer Vorhaut zu erhalten.
Die Tabelle zeigt den zusammengesetzten Gesamtanteil von Jungen je Alter, die keine komplett zurückziehbare Vorhaut besitzen:
Jakob Østers Daten über die Entwicklung der Vorhaut neu zusammengefasst | |||||
Alter (in Jahren) | Phimose | „enge“ Vorhaut | „Adhäsionen“ | Gesamtanteil nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Gesamtanteil komplett zurückziehbar |
6-7 | 8% | 6% | 63% | 77% | 23% |
8-9 | 6% | 2% | 58% | 66% | 34% |
10-11 | 6% | 2% | 48% | 56% | 44% |
11-12 | 3% | 3% | 34% | 40% | 66% |
13-14 | 1% | 1% | 13% | 15% | 85% |
16-17 | 1% | 1% | 3% | 5% | 90% |
Østers Werte widerlegen Gairdners Daten, denen zufolge bereits 90 Prozent der Fünfjährigen eine zurückziehbare Vorhaut hätten. Øster stellte hingegen fest, dass die 90-Prozent-Marke nicht vor dem 16. Lebensjahr erreicht wird.
⇒ Kayabas Studien-Bericht in der deutschen Übersetzung
Hiroyuki Kayaba, ein japanischer Arzt, untersuchte die Vorhautentwicklung bei 603 japanischen Schuljungen.(8) Kayaba stellte eine stetige Entwicklung hin zu zunehmender Zurückziehbarkeit der Vorhaut mit zunehmendem Alter fest.(8)
Auch Kayaba stelle fest, dass 40% der Jungen in der Altersgruppe von 8 bis 10 Jahren eine vollständig zurückziehbare Vorhaut hatten, demnach ungefähr 60% eine mehr oder weniger nicht-zurückziehbare Vorhaut. Er gab weiter an, dass 62,9% der Jungen in der Altersgruppe zwischen 11 und 15 Jahren eine vollständig zurückziehbare Vorhaut hatten, somit 37,1% eine bis zu einem gewissen Grade nicht-zurückziehbare Vorhaut.
Kayabas Daten zur Entwicklung der Vorhaut | ||
Alter (in Jahren) | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Vorhaut komplett zurückziehbar |
0,5 | 100% | 0% |
1 | 96% | 4% |
2 | 94% | 6% |
3-4 | 83% | 17% |
5-7 | 73% | 27% |
8-10 | 60% | 40% |
11-15 | 27,1% | 62,9% |
Kayaba verwendete zur Bewertung seiner Befunde eine spezielle Klassifizierung der Vorhaut hinsichtlich ihres Grades der Zurückziehbarkeit. Er unterteilte die Vorhäute der untersuchten Jungen nach Zurückziehbarkeit in fünf Vorhaut-Typen, von Typ I (komplett nicht zurückziehbar) bis Typ V (komplett zurückziehbar).(8)
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Kayabas Klassifizierung wurde von allen späteren Studien über die Vorhautentwicklung übernommen, teilweise in einer vereinfachten Version mit nur vier Vorhaut-Typen zur Klassifizierung der Zurückziehbarkeit der Vorhaut.
Link zu
Eine von Imamura in Japan durchgeführte Studie belegt ebenso, dass die nicht zurückziehbare Vorhaut bei Jungs im Vorschulalter den Normalbefund darstellt.(9) Imamura fand nur 38,4% 3-Jährige mit vollständig zurückziehbarer Vorhaut. Imamuras Werte sind denen von Kayaba sehr ähnlich.(9) Imamura stellt auch klar, dass eine nichtzurückziehbare Vorhaut a priori keiner Behandlung bedarf.(9)
Die in Kuba durchgeführte Studie von Concepción-Morales et al. bestätigt erneut die Arbeiten von Øster und Kayaba.(11) Die Forscher untersuchten die Vorhautentwicklung bei 400 Jungen im Alter von 0 bis 16 Jahren. Sie stellen fest, dass von den 1-Jährigen Jungen nur 5.5% eine komplett zurückziehbare Vorhaut hatten, wobei sich der Anteil der Jungen mit komplett zurückziehbarer Vorhaut auf 14,5 % bei den 1- bis 2-Jährigen, und 82.3% bei den 11- bis 16-Jährigen erhöhte.
Morales Concepción et al. Daten zur Vorhautentwicklung | ||
Alter | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Vorhaut komplett zurückziehbar |
0-11 Monate | 94.5% | 5.5% |
1-2 Jahre | 85.4% | 14.6% |
3-6 Jahre | 65.1% | 34.9% |
7-10 Jahre | 45.1% | 54.9% |
11-16 Jahre | 17.7% | 82.3% |
Ishikawa und Kawakita untersuchten die Zurückziehbarkeit der Vorhaut bei 242 japanischen Jungen im Alter von 0 bis 15 Jahren.(14) Sie fanden heraus, dass sich der Anteil der Jungen mit vollständig zurückziehbarer Vorhaut von 0% bei der Geburt auf 77% bei den 11- bis 15-jährigen Jungen erhöhte. Das bestätigt die vorhergehenden Studienergebnisse darin, dass bei vielen Jungen die Vorhaut nicht vor dem Ende der Pubertät zurückziehbar wird.(14)
⇒ Agawal, Mohta und Anands Studien-Bericht in der deutschen Übersetzung
Agawal, Mohta und Anand untersuchten in ihrer Studie indische Jungen im Alter von 0 bis 12 Jahren.(16)
Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Jungen mit einer vollständig zurückziehbaren Vorhaut von 0% bei den 0 bis 6 Monate alten Jungen auf 60 % bei den 10- bis 11-jährigen Jungen anwuchs.
Agarwal, Mohta, und Anands Daten zur Entwicklung der Vorhaut | ||
Alter | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Vorhaut komplett zurückziehbar |
0-6 Monate | 100% | 0% |
7-12 Monate | 99.2% | 0.8% |
1-2 Jahre | 90.6% | 9.4% |
2-4 Jahre | 83.5% | 16.5% |
4-6 Jahre | 81.2% | 18.8% |
6-8 Jahre | 72.2% | 27.8% |
8-10 Jahre | 64.5% | 35.5% |
10-12 Jahre | 34.7% | 65.7% |
⇒ Hsieh, Chang, und Changs Studien-Bericht in der deutschen Übersetzung
Hsieh, Chang, und Chang untersuchten in ihrer Studie 2149 taiwanesische Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren. (17)
Sie stellten fest, dass der Anteil der Jungen mit einer vollständig zurückziehbaren Vorhaut von 8. 2% bei den 7-Jährigen auf 58.1% bei den 13-Jährigen anstieg.
Hsieh, Chang und Changs Daten zur Entwicklung der Vorhaut | ||
Alter (in Jahren) | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar, oder beschnitten | Vorhaut komplett zurückziehbar |
6-7 | 91.8% | 8.2% |
9-10 | 96% | 4% |
13 | 41.9% | 58.1% |
Ko, Lui und Lee untersuchten1145 taiwanesische Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren, sowie 60 weitere Jungen im Neugeborenenalter.(18)
Keines der neugeborenen männlichen Säuglinge hatte eine komplett zurückziehbare Vorhaut.
Ko, Lui, und Lee, et al. Daten zur Entwicklung der Vorhaut | ||
Alter | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar | Vorhaut komplett oder beinahe komplett zurückziehbar |
0 Jahre | 100.0% | 0% |
7 Jahre | 28.3% | 71.7% |
10 Jahre | 27.6% | 72.4% |
13 Jahre | 15.9% | 84.1% |
Es gilt zu beachten, dass Ko et al. eine etwas ungenauere Einteilung der Vorhaut-Zurückziehbarkeit anwendeten als frühere Studien. So verwenden die Autoren zur Einteilung des Grades der Zurückziehbarkeit auch das von Kayaba etablierte Klassifizierungsystem, benutzen aber anstatt 4 Typen nur 3 Typen, wobei die Typ-III-Vorhaut (beinahe komplett zurückziehbar) und Typ-IV Vorhaut (komplett zurückziehbar) nach Kayaba zu einem einzigen, neuen Typ III zusammengefasst wurden.
⇒ Yang, Liu, und Wie Studien-Bericht in der deutschen Übersetzung
Yang, Liu, und Wie untersuchten in ihrer Studie die Vorhautentwicklung bei 10421 chinesischen Jungen im Alter von 0 bis 18 Jahren.(19)
Die Autoren stellte fest, dass sich der Anteil der Jungen mit einer vollständig zurückziehbaren Vorhaut von 0% bei Neugeborenen auf 42.26% bei den 11- bis 18-Jährigen erhöhte.
Weiterhin wurde festgestellt, dass vor Beginn des 3. Lebensjahres kein einziger Junge einer Beschneidung unterzogen wurde. Ein einziger der 3753 untersuchten Jungen im Alter von 0 bis 2 Jahren war beschnitten.
Yang, Liu, und Weis Daten zur Entwicklung der Vorhaut | ||
Alter | Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehbar oder beschnitten | Vorhaut komplett zurückziehbar |
0-28 Tage | 100% | 0% |
1-2 Monate | 99.33% | 0.67% |
1-2 Jahre | 97.93% | 2.07% |
3-6 Jahre | 89.28% | 10.72% |
7-10 Jahre | 76.30% | 23.70% |
11-18 Jahre | 57.74% | 42.26% |
Die ersten Daten über die Entwicklung der Vorhaut wurden im Jahre 1949 vom berühmten britischen Kinderarzt Douglas Gairdner veröffentlicht.(2)
Gairdner beschrieb eine sehr schnelle Zunahme der Zurückziehbarkeit der Vorhaut bis zum 3. Lebensjahr. So gab Gairdner an, dass im Alter von 2 Jahren bereits 80% der Jungen, und im Alter von 3 Jahren sogar ganze 90% der Jungen eine komplett zurückziehbare Vorhaut hätten.(2)
Gairdner merkte an, dass bei einem Teil der untersuchten Jungen an der Vorhaut manipuliert worden war, was die schnelle Zunahme der Zurückziehbarkeit möglicherweise erklärt. Wie dem auch sei, Gairdners Werte zur Zurückziehbarkeit der Vorhaut wurden von späteren Forschungsarbeiten wieder und wieder widerlegt
Øster (1968),(3) Kayaba et al. (1996),(8) Morales Concepción et al. (2002),(11) Agarwal et al., (2005),(16) Hsieh et al. (2006),(17) Ko et al. (2007),(18) und Yang et al. (2010), (18) stellten unabhängig voneinander fest, dass die Entwicklung der Zurückziehbarkeit ein sehr allmählicher und individuell sehr unterschiedlicher Vorgang ist, der irgendwann zwischen der Geburt und der Vollendung der Pubertät stattfindet. Alle diese Studien stellen fest, dass im Alter von 3 Jahren, in dem laut Gairdner bereits 90% der Jungen eine zurückziehbare Vorhaut haben, nur eine Minderheit der Jungen bereits über eine zurückziehbare Vorhaut verfügt. Alle diese Studien widerlegen Gairdners Daten von 1949.
Gairdners Werte über die Entwicklung der Vorhaut waren lange Zeit die einzigen ihrer Art und über Jahrzehnte hinweg unangefochten. Sie wurden in dieser Zeit von den Autoren zahlreicher Lehrbüchern zitiert.(12) Gairdners falsche Werte zur Vorhautentwicklung hatten so einen tiefen, bis heute andauernden Eindruck auf die medizinische Literatur und Praxis hinterlassen: (20)
Nach einer Publikation von Douglas Gairdner lässt sich die Vorhaut bei etwa 90 % aller Knaben ab dem Alter von 3 Jahren zurückstreifen (Gairdner, 1949). Diese Untersuchung aus dem Jahre 1949 scheint bis heute die Basis der Lehre zu sein. Schlimmer noch, der Kenntnisstand von 1949 ist offenbar häufig auch die Basis von Operationsindikationen. Gairdner hat seine Ergebnisse an einem Kollektiv von hundert Neugeborenen und zweihundert Jungen bis zum Alter von fünf Jahren erhoben. Bei den Knaben jenseits des Neugeborenenalters sei, so der Autor, teilweise bereits am Penis manipuliert worden. Welche Manipulationen im Einzelnen vorgenommenen wurden und mit welchem Resultat, bleibt unbekannt. Gairdner warnte daher in seiner Publikation selbst, dass die Zahlen aus diesem Grunde nicht präzise seien.
Auch auf die deutschsprachige medizinische Literatur, und damit zwangsläufig auch auf den Kenntnisstand und die Praxis deutscher Ärzte, hatten Gairdners falsche Werte einen nachwirkenden Einfluss. Dieser erstreckt sich selbst auf aktuelle Leitlinien zur Phimosebehandlung:
„Die noch aktuelle Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (Bartsch, Schmiedeke u. Tröbs, 2011) zur Phimose greift auf die entsprechende Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie zurück, die bis 31. 12. 2012 gültig war. Die Autoren gehen davon aus, dass 94 % der »unbehandelten neugeborenen Jungen« eine »physiologische Phimose« haben. Die naheliegende Frage, welche neugeborenen Jungen behandelt werden müssen, bleibt offen. Nach der Meinung der Autoren dieser Leitlinien löst sich die »physiologische Phimose bei der übergroßen Anzahl von Knaben im Alter von 3–5 Jahren«. Demnach wäre es eventuell pathologisch und therapiebedürftig, wenn sich die Vorhaut bei einem Jungen im Schulalter noch nicht zurückstreifen lässt. Die Leitlinie sieht hierin nur eine relative Indikation, weil die »spontane Rückbildung einer nicht narbigen Phimose auch jenseits dieser Altersstufe« möglich ist.“
(...)
„Die neueste Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie zu Phimose und Paraphimose bleibt weiterhin auf der niedrigsten Qualitätsstufe (S1) und beschränkt sich auf die Auswertung von 17 Literaturzitaten. Obwohl die sparsam verwendete Literatur anderes aussagt, stellen die kinderchirurgischen Experten fest, dass Reifungsvorgänge eine »Auflösung der physiologischen Vorhautverklebung und -enge bei der übergroßen Mehrzahl der Knaben im Alter von 3 bis 5 Jahren« bedingen würden (AWMF, 2013). Bei unkompliziertem Verlauf sei der Beginn einer Therapie im Vorschulalter, bei Beschwerdefreiheit auch später, zu empfehlen. Der unsinnig konstruierte Gegensatz zwischen »unkompliziert « und »Beschwerdefreiheit« wird nicht näher spezifiziert. Auch engt die Leitlinie auf der einen Seite die Gründe für eine Beschneidung auf Vorhautengen durch Entzündungen und Narben streng ein, auf der anderen Seite eröffnet sie jedoch durch mangelnde Präzision, Relativierungen und innere Widersprüche einen großen Graubereich der Behandlung, die auch eine Beschneidung sein kann. Die Empfehlung einer Therapie bei »unkompliziertem Verlauf« im Vorschulalter pathologisiert einen Zustand, der an anderer Stelle der Leitlinie richtiger Weise als normal bezeichnet wird.“(20)
Mit Hinblick auf den Einfluss von Gairdners Untersuchung auf die deutsche Literatur (Lehrbücher und Leitlinien) und dessen Folgen für den Kenntnisstand und die Praxis deutscher Ärzte lässt sich folgendes, ernüchterndes Fazit ziehen:
„Den meisten Ärzten fehlen ausreichende Kenntnisse über die physiologische Entwicklung der Vorhaut. Die wenigen Untersuchungen, die nach 1950 zu diesem Thema gemacht wurden, bleiben in den Lehrbüchern der Kinder- und Jugendmedizin weitestgehend unberücksichtigt.“
„Das »Basiswissen« zum Thema Phimose, das heute Studenten und Ärzte aus den Lehrbüchern und aus den Leitlinien beziehen, ist weitgehend unbegründet und falsch. Bereits die Uneinheitlichkeit der Darstellungen hätte seit vielen Jahren Misstrauen erzeugen müssen. .. Keinesfalls können die heutigen Lehrbücher und Leitlinien als Basis für eine Patientenaufklärung gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft herangezogen werden. Eine solche Aufklärung in verständlicher und umfassender Weise gebietet das neue »Patientenrechtegesetz« in Deutschland seit dem 26. 02. 2013.“(20)
Fast alle Jungen kommen mit einer engen, zudem mit der darunterliegenden Eichel verklebten und deshalb nicht-zurückziehbaren Vorhaut zur Welt. Das ist ein normaler entwicklungsphysiologischer Zustand und kein Grund zur Besorgnis.
Das Zurückziehen der Vorhaut darf niemals erzwungen werden. Sie wird sich zurückziehen lassen, wenn sie bereit dazu ist. Es gibt kein „richtiges“ Alter, ab dem die Vorhaut zurückziehbar sein muss.
Eine verengte, nicht zurückziehbare Vorhaut bei Jungen ist Teil der körperlichen Entwicklung und verursacht gewöhnlich keine Probleme. Die Vorhaut wird sich von ganz von selbst weiten, bis sie sich vollständig zurückziehen lässt. Ungefähr 50-60% der Jungen im Alter von 10 Jahren können ihre Vorhaut nicht oder nur teilweise zurückziehen. Das ist der Normalbefund. Nach der Pubertät nimmt der Prozentanteil von Jungen mit vollständig zurückziehbarer Vorhaut von selbst sukzessive zu.
Sollte eine enge oder nicht zurückziehbare Vorhaut für den jungen Mann zum Problem werden, stehen heute eine Vielzahl konservativer Behandlungsalternativen anstelle einer Zirkumzision zur Verfügung.
Weitere Übersichtsarbeiten über die Entwicklung der Vorhaut:
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