Man begegnet in der Diskussion um Anästhesiemethoden bei Neugeborenen immer wieder der Behauptung, eine Allgemeinanästhesie sei bei diesen grundsätzlich nicht angezeigt. Dies ist nicht richtig. Ein kompetenter, verantwortungsbewußter und in der Kinderanästhesie erfahrener Facharzt für Anästhesie kann bei Kindern, auch bei sehr kleinen Kindern, eine Allgemeinnarkose durchführen, ohne das Leben und die Gesundheit der Kinder unnötig zu gefährden. Er tut das allerdings nur dann, wenn der Eingriff dringlich ist. Wahleingriffe oder aufschiebbare Operationen werden bei Neugeborenen grundsätzlich nicht durchgeführt, da die Anästhesie mit besonderen Risiken verbunden ist.
„Eine Anästhesie während der Neugeborenenperiode ist nie eine Bagatelle, gleichgültig wie klein der Eingriff ist.“ (aus Lehrbuch „Kinderanästhesie“ von Frei, Jonmarker und Werner).
Krankheitsbilder, die in der Fachwelt anerkannt zu einer Operation im Neugeborenenalter führen, sind daher stets lebensbedrohlich und nicht aufschiebbar, wie schwere Herzfehler, Undurchgängigkeiten oder schwere Entzündungen im Magen-Darm-Kanal, Zwerchfellbrüche, Verlagerung von Bauchorganen außerhalb der Bauchwand oder von Rückenmarksteilen nach außen. Der Autor eines Übersichts-Artikels, der im Dezember 2012 veröffentlicht wurde, schreibt [1]:
„Eine Selbstverständlichkeit sollte es sein, besonders bei Neugeborenen und Säuglingen jede Indikation zur Operation kritisch und individuell zu hinterfragen.“
Auch der Arbeitskreis Kinderanästhesie bei der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) hat sich in seinen Handlungsempfehlungen klar geäußert [2,3]:
Grundsätzlich spricht nichts dagegen, auch ein Neugeborenes (NG) nach einer kleinen Operation an der Körperoberfläche noch am OP-Tag wieder in die Obhut seiner Eltern zu entlassen. Das eigentliche Risiko ist nicht der operative Eingriff, sondern die instabile physiologische Situation, in der sich das NG befindet. Mit einiger Sorge beobachtet der AK-Kinderanästhesie deshalb, dass zunehmend Neugeborene und Säuglinge in ungeeigneten Einrichtungen von kaum ausgebildeten Anästhesisten ambulant versorgt werden. Die Anforderungen an die technische Ausstattung dieser Einrichtungen sowie an die Ausbildung, den Kenntnisstand und die Fähigkeiten des beteiligten Personals sind sehr hoch und wurden vom Wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie der DGAI erst vor kurzer Zeit publiziert. Neugeborene, Säuglinge und Kinder bis zu einem Alter von 3 Jahren sind besonders gefährdet, Anästhesiekomplikationen zu erleiden. In dieser Altersklasse gibt es keine „kleine“ Chirurgie oder „kleine“ Anästhesie.
Die Grenzen zwischen allen Stadien der Sedierung sind fließend, eine moderate Sedierung kann jederzeit in eine tiefe Sedierung übergehen. Daher ist es unabdingbar, für jede Form der Sedierung eine adäquate Überwachung zu gewährleisten und den Arbeitsplatz entsprechend auszustatten. Sedierungen bzw. Analgosedierungen sollen durch im Umgang mit Kindern erfahrene Anästhesisten und Pädiater mit intensivmedizinischen Kenntnissen durchgeführt werden.
Auch wenig ältere Kinder, besonders Kleinkinder, haben ein deutlich höheres Narkoserisiko als Erwachsene. Als Ursachen gelten mangelhafte Ausrüstung, Überdosierung von Anästhetika, Atemdepression, Verlegung der Atemwege, ein unerfahrener Anästhesist und eine ungenügende Überwachung. Auf Grund der kleineren Atemwegsdurchmesser können bereits geringe Schwellungen durch die im Kindesalter häufigen Atemwegsinfektionen zu erheblichen Einengungen der Atemwege führen [4].
Hinsichtlich des Narkoserisikos bei Kindern bis zum ersten Lebensjahr gibt es eine aktuelle Studie von der University Iowa City/ USA (Block et al. 2012). Es interessierten die Auswirkungen einer Vollnarkose innerhalb des ersten Lebensjahres auf die spätere Kognition. Psychometrisch wurden intellektuelle und kognitive Leistungsfähigkeiten erfaßt wie verbales Ausdrucksvermögen und mathematische Fähigkeiten. Ermittelte Summenwerte liegen in der Allgemeinbevölkerung im Mittel bei 50 Punkten. Bei Anästhesieanamnese innerhalb des ersten Lebensjahres erreichten Kinder und Jugendliche durchschnittlich nur 43 Punkte. Weitere Studien belegen Langzeitunterschiede zwischen Kindern, die in sehr jungem Alter eine Allgemeinanästhesie erhalten hatten, und Kindern ohne Anästhesie in der Vorgeschichte [5,6].
Bei Früh- und Neugeborenen können Streß und Schmerzen außerdem Hirnblutungen und Hirninfarkte begünstigen, da die Gefäßstrukturen um die Hirnventrikel noch sehr fragil sind. Dies stellt die häufigste Ursache für eine gestörte Entwicklung des Früh- und Neugeborenen dar [1]. Somit kommt der Schmerztherapie und Streßabschirmung bei Früh- und Neugeborenen zur Vermeidung des Risikos von Hirnschädigungen und langfristigen Beeinträchtigungen der psychoneuralen Entwicklung eine erhebliche Bedeutung zu. Dazu der Arbeitskreis Kinderanästhesie der DGAI [7]:
„Bei aller wissenschaftlichen Diskussion ist es der DGAI wichtig, einen zentralen Punkt herauszuheben: es gibt keine Alternative zur Anästhesie bei indizierten Operationen! Schmerz und Trauma führen bewiesenermaßen zu Spätfolgen, was mit allem Engagement vermieden werden muß.“
Unter der Überschrift „Anästhetika-induzierte Neurotoxizität“ veröffentlichten die Arbeitskreise Kinderanästhesie und Neuroanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) 2012 eine Empfehlung, in der auf klare Hinweise in tiermedizinischen Studien hingewiesen wird, nach denen alle gängigen Narkose- und Sedierungsmedikamente am sich entwickelnden Gehirn zu Zelluntergängen, in bildgebenden Verfahren sichtbaren Veränderungen mit Verhaltenspathologien und kognitiven Langzeitdefiziten führen. Der sensible Entwicklungszeitraum der Synaptogenese erstreckt sich beim Menschen mindestens bis zum Ende des zweiten Lebensjahres.
Ab 2014 werden erste Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Multicenterstudien bei Neugeborenen und Säuglingen erwartet. In einigen retrospektiven Studien konnte eine erhöhte Häufigkeit von Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern gefunden werden, die bis zum Alter von 3 oder 4 Jahren anästhesiert wurden, insbesondere wenn die Kinder zum Zeitpunkt der Anästhesie jünger als ein halbes Jahr waren. Der Arbeitskreis Kinderanästhesie fordert daher [7]:
„klare Definitionen von nicht-verschiebbaren Operationen in den ersten beiden Lebensjahren“.
Die Lebensumgebung des ungeborenen Kindes ist eine ganz andere als die des Kindes nach der Geburt. Die Natur hat sich für beide Situationen und für den Übergang während der Geburt einige Tricks ausgedacht.
Im Mutterbauch wird das Kind mit Sauerstoff und Nährstoffen über die Plazenta versorgt. Die Plazenta ermöglicht auch den Abtransport der Stoffwechselabfallprodukte zurück zur Mutter. Die Plazenta des Kindes hat der Mutter zugewandt wie auf einem Teller ein Netz ganz feiner Adern. Diese Adern liegen am Gebärmuttergewebe nur ganz eng an. Es fließt also kein Blut direkt von der Mutter zum Kind. So müssen Sauerstoff und Nährstoffe erst die Adern der Mutter verlassen, dann diesen kleinen Zwischenraum überbrücken und gelangen erst dann in die Adern des Kindes. Deshalb ist die Sauerstoffversorgung des ungeborenen Kindes nicht wirklich luxuriös und sein Blutdruck niedrig. Das Neugeborene hat nur einen Sauerstoffpartialdruck von 70-90 mmHg gegenüber über 96 mmHg des Erwachsenen.
Um trotzdem zu gewährleisten, daß das ungeborene Kind wächst und gedeiht, hat es eine hohe Konzentration eines besonderen roten Blutfarbstoffes, des fetalen Hämoglobins. Dieses nimmt Sauerstoff leichter auf als das in geringerer Menge bereits vorhandene Erwachsenen-Hämoglobin, gibt ihn aber schwerer ans Gewebe ab. Die Eigenschaften des fetalen Blutfarbstoffes sind nach der Geburt von Nachteil, so daß er in den ersten drei Lebensmonaten vollständig abgebaut und durch Erwachsenenblutfarbstoff ersetzt wird – unter hoher Belastung für die noch nicht gut funktionierende Leber.
Lunge, Leber, Darm und Nieren haben im Mutterleib nichts zu arbeiten. Sie müssen lediglich wachsen und sich auf die Umstellung bei und nach der Geburt vorbereiten. Das Gehirn des ungeborenen Kindes muß aber gut mit Sauerstoff versorgt werden. Und Herz- und Blutgefäßsystem müssen für die Situation nach der Geburt vorbereitet sein. Mehrere Kurzschlußverbindungen gewährleisten, daß beide Aufgaben erfüllt werden:
Nach der Geburt muß die Sauerstoffversorgung des Kindes sofort und ohne Verzögerung durch dessen Lunge übernommen werden [9,10]. Mit dem ersten Atemzug des Neugeborenen füllen sich seine Lungen das erste Mal mit Luft. Die durch den vorher niedrigen Sauerstoffgehalt des Blutes bedingte Gefäßverengung in der Lunge läßt nach. Dadurch vermindert sich der Druck in der Lungenstrombahn und es fließt mehr Blut aus der Lungenschlagader in die Lunge.
Dieses vergrößerte Blutvolumen fließt nach Sauerstoffaufsättigung in der Lunge in den linken Herzvorhof und läßt auch hier den Druck ansteigen. Dadurch verschließt sich das Foramen ovale zwischen den Herzvorhöfen funktionell. Das heißt, die überlappenden Zwischenwandanteile werden durch den Druck im linken Herzvorhof nur aufeinandergelegt und verschließen so den Durchgang. Der anatomische Verschluß, das heißt das endgültige Zusammenwachsen der Wandanteile der alten Öffnung erfolgt nur allmählich im ersten Lebensjahr, bei 20 – 25 % der Menschen bleiben dauerhaft kleine oder größere Undichtigkeiten zurück. So lange der Verschluß nur funktionell ist, kann jede Druckerhöhung im rechten Herzvorhof (z.B. durch die künstliche Beatmung während einer Allgemeinanästhesie) zu einer Wiedereröffnung des Foramen ovale und zu gefährlichen Abfällen der Sauerstoffsättigung des Kindes führen.
Die Wand des Ductus arteriosus Botalli zieht sich zunächst unter nervalchemischer Steuerung zusammen. Sie vernarbt in der Regel bis zum Ende des dritten Lebensmonats. Bis dahin ist auch dieser Verschluß nur funktionell und kann durch bestimmte Faktoren wieder aufgehoben werden, wie z. B.:
Dann fließt sauerstoffarmes Blut direkt von der Lungenarterie in die Aorta. Die Lunge und ihre Sauerstoffaufsättigung werden umgangen. Dies kann zu gefährlichen Abfällen der Sauerstoffsättigung und einer Sauerstoffunterversorgung des Kindes führen [11].
Das Neugeborene hat einen erhöhten Sauerstoffverbrauch (7 ml/kg gegenüber 3,5 ml/kg beim Erwachsenen), aber einen niedrigen arteriellen Sauerstoffgehalt. Der ohnehin verminderte zentrale Atemantrieb wird durch einen Abfall der Sauerstoffsättigung oder eine Auskühlung noch weiter reduziert. Bei Neugeborenen führen bereits geringe Blutverluste zu einem lebensbedrohlichen Volumenmangel. Die Sauerstoffunterversorgung kann ihrerseits eine zentrale Atemdepression verursachen und in einem Teufelskreis die Situation weiter verschlimmern.
Auch die Funktionen weiterer Organsysteme des Neugeborenen weichen von denen älterer Kinder oder Erwachsener ab.
Das Neugeborenenherz reagiert empfindlich auf Medikamente, die die Herzleistung herabsetzen. Auch eine Sauerstoffunterversorgung beeinträchtigt die Leistung des Herzmuskels überproportional [12,13,14,15].
Die Urinausscheidung ist in den ersten Tagen nach der Geburt gering. Das ist sinnvoll, weil auch die Milchproduktion der Mutter erst langsam in Gang kommt. Damit ist aber auch die Möglichkeit zur Ausscheidung von Medikamenten vermindert. Die Nierenfunktion erreicht erst nach dem ersten Lebensmonat 80 % der Normwerte [16].
Die Leberfunktion ist bei der Geburt noch nicht vollständig entwickelt. Der Bluteiweißgehalt ist bis zum Ende des ersten Lebensjahres vermindert, so daß die freie Konzentration vieler Medikamente erhöht ist. Außerdem ist der Abbau vieler Medikamente, z. B. von Lokalanästhetika und Narkosemedikamenten durch die Unreife verschiedener Enzymsysteme deutlich verlangsamt. Das Neugeborene hat einen physiologischen Vitamin-K-Mangel, so daß Gerinnungungsfaktoren nur eingeschränkt synthetisiert werden können. Auch die anderen Enzymsysteme erreichen ihre Leistungsfähigkeit erst nach einigen Monaten. Sichtbares Zeichen der unreifen Leberfunktion und der Belastung durch den Abbau des fetalen Blutfarbstoffes ist die bekannte Neugeborenengelbsucht.
Sedierende Medikamente dringen durch die unreife Blut-Hirn-Schranke leichter in das Gehirn eines Neugeborenen ein. Dies führt zu erhöhten Konzentrationen im Gehirn.
Das Kind im Mutterleib ist dort gegen Auskühlung geschützt. Die Fähigkeit zur eigenständigen Regulation der Körpertemperatur entwickelt sich nur langsam. Das Neugeborene kühlt daher leicht aus. Eine Auskühlung erhöht den Sauerstoffverbrauch und verschlechtert die zentrale Atemregulation. Der Medikamentenabbau in Leber und Niere ist bei Auskühlung ebenfalls verlangsamt.
Bei Früh- und Neugeborenen ist eine erhebliche Unreife der schmerzhemmenden Bahnen belegt. Im Vergleich zu Erwachsenen sind beim Neugeborenen nur 14 % der Andockstellen für Opiate in den übergeordneten Bereichen des Gehirns vorhanden, im Bereich des Hirnstammes dagegen bereits 40 %. Opiate wirken also nicht so gut gegen Schmerzen, wenn sie bereits die Atmung beeinträchtigen [1].
Das Schmerzempfinden Früh- und Neugeborener steht außer Zweifel. Kurz- und langfristige Folgen von unzureichend unterdrückten Operationsschmerzen oder einer unzulänglichen perioperativen Schmerztherapie sind [1]:
Fallberichte beschreiben Pneumothorax [18], Magenruptur [19] und einen Herzschaden im Zusammenhang mit einer Beschneidung unmittelbar nach der Geburt, zu einem Zeitpunkt also, an dem bereits maximale Adrenalinspiegel bei den Neugeborenen gemessen werden [20]. Eine Studie wurde abgebrochen, nachdem mehrere Säuglinge, die ohne Anästhesie beschnitten wurden, scheinbar lebensgefährliche Atemschwierigkeiten bekamen, die bis zu Erstickungsanfällen und Atemstillstand reichten. Würgen und Sauerstoffsättigungsabfälle sind beschrieben [21].