Für eine rechtswirksame Einwilligung in einen medizinisch nicht indizierten Eingriff ist eine besonders weitreichende Aufklärung und die schriftliche Dokumentation auch seltener Risiken erforderlich, und zwar in einer Form, die sicherstellt, daß die Einwilligenden sie auch in Gänze verstanden haben.
Bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen werden an die Aufklärung zum Eingriff und zur Anästhesie seitens der Rechtsprechung und der Bundesärztekammer besonders hohe Anforderungen gestellt [1]:
„Die Aufklärung darf keinen Bedarf erzeugen. … Dabei müssen nicht nur alle in Betracht kommenden Alternativen, sondern auch deren jeweilige Neben- und Spätfolgen berücksichtigt werden. …. Der Arzt sollte auch geeignete Lösungen außerhalb ärztlicher Behandlungsmaßnahmen kennen und in die Beratung einbeziehen. Auch sollte mit dem Nachfragenden die Option besprochen werden, den bestehenden Zustand zu akzeptieren. …. Zum Angebot von ärztlichen Leistungen gehört eine gründliche und verständliche Aufklärung über die zur Wahl stehenden Maßnahmen, ihre erwünschten und unerwünschten Resultate und deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Der Arzt muss den Nachfragenden auch darüber informieren, dass keine medizinische Indikation vorliegt. Die erforderliche Aufklärung muss u. a. Angaben darüber umfassen, … wie weit die ärztliche Einschätzung von Nutzen und Risiken wissenschaftlich abgesichert ist. Angesichts der zum Teil wenig gesicherten Erkenntnisse über die Spätfolgen vieler Behandlungen kommt diesem Punkt eine besondere Bedeutung zu. Wie bei der ärztlichen Behandlung von Krankheiten setzt auch die Durchführung von Maßnahmen bei nicht krankheitswertigen Zuständen voraus, dass der Nachfragende auf der Grundlage einer sachgerechten und umfassenden Aufklärung sein freies und informiertes Einverständnis gegeben und einen entsprechenden Behandlungsauftrag erteilt hat. Der Arzt hat dabei die Pflicht, sich im Gespräch mit dem Nachfragenden zu vergewissern, dass dieser die Aufklärung verstanden hat.“
Soweit die Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Das jüdische Krankenhaus Berlin müßte beispielsweise aufgrund der dort durchgeführten „Anästhesie“- und Operationstechnik unter anderem über folgende Risiken aufklären:
Der Gesetzgeber hat ausdrücklich in der Begründung zum § 1631d BGB auf die geltende Rechtslage verwiesen:
„… trägt bereits das geltende Recht Rechnung, ohne dass es insoweit zusätzlich einer ausdrücklichen Regelungbedarf.“
Die Anforderungen an die umfassende Aufklärung zur medizinisch nicht indizierten Neugeborenenzirkumzision leiten sich somit aus dem am 29. November 2012 durch den Bundestag verabschiedeten Patientenrechtegesetz ab. Es führt im Einzelnen aus:
§ 630a BGB
(2) Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.
Der Verweis auf die „bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards“ dürfte, wie bisher auch, als Hinweis auf die von den Fachgebieten definierten Standards, wie sie insbesondere in Leitlinien, Empfehlungen und auch Vereinbarungen niedergelegt sein können, verstanden werden [4]. Die medizinische Formulierung „in der Regel“ bedeutet im Rechtsverfahren, daß eine Aufklärungspflicht bei Abweichung zwingend besteht, insbesondere bei „beabsichtigtem Unterschreiten des etablierten Standards“.
§ 630f BGB
(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.
Im Arzthaftungsprozeß kommt der Dokumentation eine entscheidende Bedeutung zu. Bei Fehlen oder Mängeln der Dokumentation wird der Arzt, der insoweit dann mit dem Beweis belastet ist, nur schwer nachweisen können, wie er die Behandlung durchgeführt hat [4]. Die Rechtsprechung hat auch mit hinreichender Klarheit definiert, welcher Zeitraum mit der „Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang“ gemeint ist.
§ 630h BGB
(1) Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patenten geführt hat.
(4) War ein Behandelnder für die von ihm vorgenommene Behandlung nicht befähigt, wird vermutet, dass die mangelnde Befähigung für den Eintritt der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ursächlich war.
Als voll beherrschbares Behandlungsrisiko (Abs. 1) muß bei der Brit Mila gelten, wenn kein Anästhesist hinzugezogen wurde, obwohl die angewandten Betäubungsversuche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den vorgesehenen operativen Eingriff unzureichend waren. Daß ein nichtärztlicher Mohel für die für die Brit Mila notwendige Anästhesie nicht befähigt ist (Abs. 4), steht außer Zweif
Weitere Aufklärungsverpflichtungen ergeben sich aus dem Arzneimittelgesetz und dem mit der Anwendung von EMLA® bei der Neugeborenenbeschneidung verbundenen Off-label-use. Diese Aufklärung ist bei einem lediglich apothekenpflichtigen Medikament, das ohne Hinzuziehung eines Arztes in der Apotheke gekauft werden kann, nicht sichergestellt. Arzneimittel, die rezeptfrei erhältlich sind, gelten als sicher.
Die behandelnden Ärzte haften bei Off-Label-Use für die medizinische Richtigkeit beziehungsweise für eventuelle Nebenwirkungen. Off-Label-Use ist fester Bestandteil des medizinischen Alltags in Deutschland, er betrifft insbesondere die Bereiche der Pädiatrie, der Onkologie und der Behandlung von HIV-Erkrankungen. Im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit trifft der behandelnde Arzt im jeweiligen Behandlungsfall eine eigenverantwortliche Entscheidung über den Einsatz eines Arzneimittels, die sich allein am jeweils gültigen ärztlichen Standard orientiert. Nach Die ärztlichen Fachgesellschaften empfehlen, Off-Label-Verordnungen nur auf Basis von gültigen Leitlinien, Empfehlungen oder von anerkannter wissenschaftlicher Literatur durchzuführen. An die Aufklärung der Patienten werden ebenfalls zusätzliche Anforderungen gestellt. Im Fall von EMLA müßten die Risiken der Neurotoxizität von Lokalanästhetika, die systemischen Nebenwirkungen bis zum generalisierten Krampfanfall in die Aufklärung einbezogen werden.
Pflichtverletzungen des Arztes können vorliegen, wenn die Arzneimittelbehandlung außerhalb der zugelassenen Indikation behandlungsfehlerhaft ist oder wenn sie nur auf Grundlage einer besonderen Aufklärung des Patienten hätte durchgeführt werden dürfen. Als Außenseitermethode bedarf sie einer umfassenden Aufklärung gegenüber dem Patienten. Der Arzt ist darüber hinaus auch verpflichtet, eine Therapie mit sicheren Arzneimitteln dadurch sicherzustellen, dass er sich ständig auf dem letzten Stand der Erkenntnisse über die Sicherheit des betreffenden Arzneimittels hält.
Im Falle eines Off-Label-Use kann jedoch auch eine Haftungspflicht für das Pharmaunternehmen bestehen. Nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AMG haftet das Pharmaunternehmen, wenn es beim „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ zu einem Schaden kommt. Der „bestimmungsgemäße Gebrauch“ ist aber nicht allein auf den Einsatz im Sinne der Zulassung beschränkt. Nach § 28 Abs. 3a kann der Arzneimittelhersteller nach der Zulassung zur Marktbeobachtung beispielsweise durch Anwendungsbeobachtungen verpflichtet werden. Wenn somit das Unternehmen von der regelmäßigen Anwendung außerhalb der Zulassung hätte wissen können, dann haftet das Pharmaunternehmen ebenfalls.
Des weiteren hat mit der Verabschiedung des „Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ (2. AMG-ÄndG) der Gesetzgeber europarechtliche Vorgaben zur Pharmakovigilanz (Richtlinie 2010/84/EU, Verordnung 726/2004/EU) umgesetzt. Verbunden mit der Umsetzung dieser Pharmakovigilanzrichtlinie wurde der Begriff „Nebenwirkungen“ neu definiert als schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen auf ein Arzneimittel. Durch die Streichung des bisherigen Zusatzes einer Reaktion „bei bestimmungsgemäßem Gebrauch“ zählen nun auch solche Reaktionen als Nebenwirkungen, die beispielsweise auf Überdosierungen, Fehlgebrauch, Mißbrauch oder andere Medikationsfehler zurückzuführen sind.
Mit der AMG-Novelle wurde auch die Auflagenbefugnis der Behörden erweitert, so daß von den Pharmafirmen zusätzliche Unbedenklichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen sowohl bei als auch nach der Zulassung angefordert werden können.
Im Falle eines apothekenpflichtigen Medikamentes kann sich auch eine Haftung des abgebenden Apothekers ergeben [5
Nicht zuletzt gilt § 20 ApoBetrO – und im Falle der Selbstmedikation besteht eine gesteigerte Beratungspflicht. Verlangt der Kunde nach einem Arzneimittel, das aufgrund der vom Kunden im Beratungsgespräch angegebenen Beschwerden nicht geeignet ist oder das für ihn aufgrund der Zulassung/Arzneimittelinformationen nicht bestimmt ist, bedarf es einer sorgfältigen Abwägung, ob es wirklich zur Abgabe geeignet ist, ob von der Anwendung abzuraten ist oder ob sie sogar mit der Gefahr einer solchen Gesundheitsgefährdung verbunden ist, die die Abgabe des Mittels verbietet.
Letztlich sind Apotheker mögliche Anspruchsgegner bei eingetretenen Arzneimittelschäden. Erfüllt der Apotheker seine Informations- und Beratungspflicht nicht fehlerfrei, kann dies im Falle einer Schädigung des Patienten einen Schadensersatzanspruch begründen. Dies gilt auch für die Verwendung von Paracetamol-Zäpfchen bei der Neugeborenenbeschneidung.
Hier folgt eine Auflistung einiger relevanter Stellungnahmen medizinischer Fachverbände bezüglich der sachgemäßen Durchführung der Anäesthesie während der Zirkumzision bzw. operativer Eingriffe an Kindern bzw. bei Säuglingen im Allgemeinen:
Anlässlich des Urteils des Landgerichts Kölns zur Strafbarkeit der medizinisch nicht notwendigen Beschneidung minderjähriger Jungen, veröffentlichte die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. eine Stellungnahme zur Beschneidungspraxis von Jungen. In ihrer Stellungnahme stellt die Deutsche Schmerzgesellschaft klar:
„[D]ie Deutsche Schmerzgesellschaft [sieht] schmerzhafte Eingriffe wie Beschneidungen bei Säuglingen nur dann als fachgerecht durchgeführt und damit zulässig an, wenn während und nach dem Eingriff eine fachlich kompetente, wirksame Schmerzbehandlung durchgeführt wird.“ [6]
Der Australische Kinderchirurgenverband, die Australasian Association of Paediatric Surgeons, äußerte sich in seinen „Guidelines on Circumcision“ auch zum Thema Schmerzbehandlung während des Eingriffs. Schwächer wirksame Anästhesieverfahren als die Regionalanästhesie wie u. a. der Peniswurzelblock oder der Kaudalblock werden von den australischen Kinderchirurgen gar nicht erst als ernsthafte Option in Betracht gezogen.
„Die Neugeborenenbeschneidung hat keine medizinische Indikation. Sie ist ein traumatischer Eingriff, der ohne Anästhesie durchgeführt wird, um ein normale, funktionale und schützende Vorhaut zu entfernen. Bei der Geburt hat sich die Vorhaut noch nicht von der darunterliegenden Eichel gelöst, und muss gewaltsam abgerissen werden, um die Eichel freizulegen, bevor die Vorhaut distal zur Eichelkranzfurche entfernt werden kann. (...)
[D]er Eingriff sollte geplant nach dem 6. Lebensmonat erfolgen. Wenn er vorgenommen wird, sollte er von einem Chirurgen durchgeführt werden, der regelmäßig Beschneidungen an Kindern vornimmt, in Zusammenarbeit mit einem Anästhesisten, der geeignete Anästhesieverfahren anwendet. Das würde bedeuten, dass der Anästhesist über umfassende Erfahrung in der Kinderanästhesie verfügt, einschließlich der Durchführung eines Peniswurzelblockes und einer Kaudalanästhesie.“[7]
2001 veröffentlichte eine internationale Expertengruppe unter der Leitung von Kanwaljeet J. S. („Sunny“) Anand – einem der Pionier auf dem Gebiet der neonatalen Schmerzbehandlung und Autor einiger Standardwerke zu diesem Thema– eine Konsens-Erklärung zur Prävention und Behandlung des Schmerzes beim Neugeborenen [8]. Die Konsenserklärung bildete eine Grundlage für viele spätere Standpunkterklärungen medizinischer Fachgesellschaften und Fachverbände zur Schmerzbehandlung beim Neugeborenen.
Die Konsenserklärung beinhaltete unter anderem eine ein 8-Punkte-Liste der Grundprinzipien für die Prävention und Behandlung von Schmerzen bei Neugeborenen [8]
Grundprinzipien für die Prävention und Behandlung des Schmerzes bei Neugeborenen
Die 8 Punkte umfassende Liste der Grundprinzipien der Konsenserklärung von Anand et al. wurde vom Australischen (und Neuseeländischen) Ärzteverband, dem Royal Australasian College of Physicians, für dessen Standpunkterklärung zur Schmerzbehandlung beim Neugeborenen (2006) verwendet und erweitert [9]:
4. Grundprinzipien für die Prävention und Behandlung des Schmerzes bei Neugeborenen
Übernommen aus Anand 2001, Bell 1994 und der American Academy of Pediatrics 2000.
Der Amerikanische Kinderärzteverband, die American Academy of Pediatrics (AAP), veröffentlichte im Jahr 2000 eine Standpunkterklärung zur Prävention und Behandlung von Schmerzen bei Neugeborenen, die 2006 leicht überarbeitet und 2010 unverändert bestätigt wurde. Darin heißt es u. a. :
Standpunkterklärung 2000
„In der späten Schwangerschaft sind beim Fötus die anatomischen, neurophysiologischen und hormonellen Kompetenten zur Schmerzwahrnehmung entwickelt.11,28-32 Früh- und reifgeborene Säuglinge zeigen im Vergleich zu älteren Kindern oder Erwachsenen ähnliche oder sogar stärkere physiologische und hormonelle Reaktionen auf Schmerzen.11,33,35 Einige Studien legen nahe, dass frühe Schmerzerfahrungen bei reifgeborenen Säuglingen die affektiven und verhaltensbezogenen Reaktionen während späterer schmerzhafter Ereignisse verstärken können.37,38“ [10]
Standpunkterklärung 2006/2010
„Die Prävention von Schmerz ist nicht nur aus ethischen Gründen wichtig, sondern auch, weil wiederholte Schmerzerfahrungen schädliche Folgen nach sich ziehen können2–21 Diese Folgen umfassen eine veränderte Schmerzempfindlichkeit 5, 7–9 (die in der Adoleszenz noch fortbestehen kann 15) und dauerhafte neuroanatomische Struktur- und Verhaltensanomalien, wie in Tierstudien festgestellt wurde. Es scheint, dass solche Veränderungen der Schmerzempfindlichkeit durch eine effektive Schmerzlinderung abgemildert werden können. 7,17 Es besteht eine zunehmende Sensibilisierung bezüglich der Langzeit-Konsequenten wiederholter Schmerzerfahrungen, die bei verletzlichen Neugeborenen auch emotionale Störungen, Verhaltens - und Lernstörungen umfassen.3, 4, 6, 10, 13, 16; jedoch liegen beim Menschen noch keine aussagekräftigen Daten vor.“[11]
In beiden Erklärungen wird besonders hervorgehoben, dass Schmerzvermeidung immer Vorrang haben muss vor Schmerzlinderung, d. h. dass operative und sonstige schmerzhafte Eingriffe bei Neugeborenen–wann immer dies möglich ist– gleich ganz vermieden werden sollen, statt nur die mit dem Eingriff einhergehenden Schmerzen zu behandeln:
Standpunkterklärung 2000
„Der Schmerz wird am wirksamsten behandelt, indem schädliche Reize verhindert, begrenzt oder vermieden werden und für eine wirksame Schmerzbehandlung gesorgt wird. ...Unnötige Einwirkungen schädlicher Reize akustischer und optischer Art, sowie unnötige Berührungen und Bewegungsreize bei Neugeborenen sollten vermieden werden.“[10]
Standpunkterklärung 2006/2010
„Zweifellos ist der effektivste Weg um den mit kleinen Eingriffen verbundenen Schmerz beim Neugeborenen zu reduzieren, die Anzahl der durchgeführten Eingriffe zu reduzieren.“[11]