Die fachgerechte Durchführung

Minor procedures und OP-Techniken

Es wird immer wieder versucht, die Neugeborenenbeschneidung als eine „ganz andere Operation als die medizinisch indizierte Zirkumzision“ zu charakterisieren. Dafür werden bestimmte Schritte einer Zirkumzision nach den Regeln der ärztlichen Kunst für bei Neugeborenen nicht notwendig erklärt (z.B. Blutstillung) und andere Schritte einfach unterschlagen (z.B. Lösung der Vorhautverklebungen).

Zudem wird einerseits oft behauptet, das operative Vorgehen bei der Neugeborenenbeschneidung sei religiös vorgeschrieben und standardisiert. Parallel werden aber von ärztlichen Beschneidern sehr unterschiedliche Methoden beschrieben.

Die Neugeborenenzirkumzision wird außerdem oft falsch neben Blutabnahmen und Impfungen unter den sogenannten „minor procedures“ gelistet [1]:

„Newborns routinely experience pain associated with invasive procedures such as blood sampling, immunization, vitamin K injection, or circumcision.“

„Neugeborene erleben in der medizinischen Behandlung häufig Schmerzen im Zusammenhang mit invasiven Prozeduren wie einer Blutentnahme, Impfung, Vitamin-K-Injektion oder Zirkumzision.“

Der Gesetzgeber fordert im § 1631d BGB die fachgerechte Durchführung einer Beschneidung unter Einhaltung der den aktuellen Erkenntnissen entsprechenden ärztlichen Standards.

Man kann davon ausgehen, daß das operative Vorgehen der deutschen kinderchirurgischen und urologischen Fachärzte bei medizinisch indizierten Vorhauteingriffen an Kindern diesen Standards entspricht. Dieses operative Vorgehen resultiert aus den anatomisch-entwicklungsphysiologischen Gegebenheiten, die bei der Resektion der kindlichen Vorhaut zu berücksichtigen sind. Bei juristischen Auseinandersetzungen dient der aktuelle Standard einer OP-Technik als Entscheidungsgrundlage des Gerichtes für die korrekte Durchführung eines operativen Eingriffes.

Dieser den aktuellen Erkenntnissen entsprechende Standard unterliegt nicht der Willkür. Die bei medizinisch indizierten Zirkumzisionen durchgeführten OP-Schritte sind auch bei nicht-medizinisch indizierten kindlichen Zirkumzisionen zur Vermeidung von Komplikationen einzuhalten.

Anforderungen an die fachgerechte Durchführung und ihre Umsetzung bei der Brit Mila

Die Schnittentfernung der Vorhaut eines Neugeborenen nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfordert – neben einem sterilen Vorgehen, einer effektiven Anästhesie und postoperativen Schmerztherapie – aus anatomischen und entwicklungsphysiologischen Gründen:

  • Die Lösung der Vorhautverklebungen
  • Den Schnitt, der die Vorhaut abtrennt
  • Die Blutstillung und Wundnaht

Die Lösung von Vorhautverklebungen bei Kindern ist ein äußerst schmerzhafter Vorgang. Ein Anästhesist wird auch bei einer isolierten Lösung von Vorhautverklebungen ohne sonstige Operation für die Durchführung einer Allgemeinanästhesie hinzugezogen, wenn es sich um ausgeprägte Verklebungen handelt, wie sie bei Neugeborenen jeder Religionszugehörigkeit beinahe immer vorhanden sind.

Im Widerspruch zur Darstellung von Roth [2], es werde bei der Brit Mila keine Vorhautklemme verwendet, stehen die Ausführungen von Latasch am 23. August 2012 vor dem Deutschen Ethikrat [3], der die Anwendung einer Klemme beschreibt (Präsentation und Audioprotokoll). Die Vorhautverklebungen sind bei Latasch bereits im Vorfeld per Knopfsonde gelöst worden. Über die Schmerzhaftigkeit des Vorganges wird nicht berichtet.

Kramer beschreibt am 26. November 2012 im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages [4] ebenfalls die Verwendung einer Klemme und nach dem Schnitt eine "Längsöffnung" des noch verklebten Vorhautteils, dessen Verklebung sich dann – so behauptet er – „leicht lösen“ lasse.

Ein standardisiertes Vorgehen scheint somit nicht zu bestehen, obwohl dies in der von Roth zitierten Arbeit von Rosen et al. [5] behauptet wird: „The technique of circumcision is prescribed.“ Informationen zur Art des angeblich vorgeschriebenen Vorgehens liefern beide von Roth zitierten Literaturhinweise zur Brit Mila nicht. Roth selbst erwähnt nur indifferent ein „anderes Vorgehen“ bei der Brit Mila und daß die „gesamte Prozedur nur 1-2 Minuten“ dauere. Die zur Entfernung der Vorhaut notwendige Lösung von Präputialadhäsionen thematisiert er überhaupt nicht.

Dennoch führt Roth in seiner Stellungnahme [2] aus, daß die kinderchirurgisch-urologische Zirkumzision („medizinische“ Zirkumzision) „im Gegensatz“ zur Brit Mila zwischen 10 und 30 Minuten dauere und „unbestritten eine optimale medikamentöse Anästhesie und Analgesie“ verlange. „Alles andere ist nicht vertretbar.“ Es besteht also eindeutig Klärungsbedarf, auf welcher wissenschaftlichen Basis die von den Kinderchirurgen und Urologen zusätzlich vorgenommenen OP-Schritte, insbesondere Blutstillung und Wundnaht, bei der von Roth nicht näher beschriebenen Brit Mila nach deutscher Methode nicht durchgeführt werden.

Informationen zur Blutstillung und Wundnaht gibt es von Graf (Stellungnahme ebenfalls vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 26. November 2012 [6]). Im jüdischen Krankenhaus Berlin wird über das erhöhte Nachblutungsrisiko bei Neugeborenen nach Grafs Angaben aufgeklärt:

„Grundsätzlich ist eine ausführliche Aufklärung beider Elternteile vor der Entscheidung zu einer Beschneidung indiziert. Dies beinhaltet bei älteren Jungen auch ein Einverständnis des Jungen zur Operation. Folgende Punkte beinhaltet jedes Aufklärungsgespräch:

  • eine Information über die Art und Technik der geplanten Operation
  • eine ausführliche Darstellung der Komplikationen, insbesondere der Nachblutungen bei Neugeborenen sowie
  • bei den älteren Jungen das Risiko einer Infektion.“

Die Nachblutungshäufigkeit beschreibt er im Vergleich zwischen Neugeborenenbeschneidung und der Beschneidung älterer Jungen wie folgt:

„Bei den neugeborenen Beschnittenen im Jüdischen Krankenhaus wurden insgesamt im postoperativen Fenster von 0 – 30 Tagen 11 Nachblutungen beobachtet. Ein Teil musste operativ mit Naht versehen werden. ... Im Vergleich hierzu zeigten sich bei den älteren Jungen insgesamt deutlich weniger Nachblutungen, da hier unter Narkose eine komplette Nahttechnik zur Adaption des äußeren und inneren Blattes unter sorgfältiger Blutstillung verwendet wird.“

Warum dem erwiesenermaßen höheren Nachblutungsrisiko der Neugeborenen nicht dadurch begegnet wird, daß sie mit derselben Blutstillungs- und Nahttechnik versorgt werden wie die älteren Jungen, erklärt Graf nicht. Im Zeitalter der mikrochirurgischen Instrumente und Operationsmikroskope gibt es keine Rechtfertigung, den bei kinderchirurgisch-urologischen Zirkumzisionen angewandten etablierten Standard zu unterschreiten. Wenn bekannt ist, daß ein Unterlassen der Blutstillung und Nahtadaptation mit einem erhöhten Nachblutungsrisiko verbunden ist, findet das statt, was juristisch als „beabsichtigtes Unterschreiten des etablierten Standards“ bezeichnet wird.

Roth lenkt von der Tatsache ab, daß dadurch die Erfüllung der im § 1631d SGB geforderten „Regeln der ärztlichen Kunst“ in Frage gestellt wird, indem er den Begriff in Anführungszeichen setzt. Seine Formulierung „Medizinische“ Beschneidung versucht, den Sachverhalt dahingehend umzukehren, daß das etablierte urologisch-kinderchirurgische Standardverfahren zur Zirkumzision zur Besonderheit stilisiert wird.

Die Kenntnis der unzureichenden Wirkung von Glucose-NNS und EMLA läßt die Antwort auf die Frage mutmaßen, warum dem erwiesenermaßen höheren Nachblutungsrisiko der Neugeborenen nicht dadurch begegnet wird, daß sie mit derselben Blutstillungs- und Nahttechnik versorgt werden wie die älteren Jungen: Weil die Alibi-Anästhesie-Illusionen Glucose-NNS und EMLA für eine lege artis durchgeführte Blutstillung und Wundnaht nicht ausreichen. Konkret: Die Neugeborenen würden bei jeder Koagulation und bei jedem Nahtstich schreien. Weder den Eltern noch der die Zeremonie begleitenden Gemeinde wäre dann noch zu vermitteln, daß hier eine wirksame Anästhesie stattfindet.

Roth selbst schreibt in seiner Stellungnahme:

„In der Tat, EMLA ist als analgetische Maßnahme im Rahmen der „medizinischen“ Zirkumzision ungeeignet, …“

Zur postoperativen Schmerztherapie finden sich bei Graf ebenfalls Informationen [6]. Im Jüdischen Krankenhaus Berlin wird eine „postoperative(n) EMLA-Auftragung zur lokalen Schmerzbekämpfung“durchgeführt. Die Grenzen eines Off-label-use werden mit einem solchen Vorgehen in mehrfacher Hinsicht überschritten. Es findet eine deutliche Unterschreitung des vorgeschriebenen Dosierungsintervalles von acht Stunden bei Neugeborenen statt. Eine Applikation von EMLA auf eine offene Wunde ist bei Kindern gleichfalls obsolet und muß schon per se zu erhöhten Resorptionsraten der Lokalanästhetika führen.

Definition der fachgerechten Durchführung einer Beschneidung unter Einhaltung der den aktuellen Erkenntnissen entsprechenden ärztlichen Standards

Um die im § 1631d BGB geforderte Einhaltung der Regeln der ärztlichen Kunst transparent nachprüfbar zu machen, wäre die erste Voraussetzung: Eine klare Definition der Vorgehensweise bei einer Brit Mila nach deutschem Recht.

Sodann ist es unumgänglich, mit den Fachverbänden der Kinderchirurgen und Kinderurologen den etablierten Standard einer operativen Entfernung der Vorhaut eines Neugeborenen zu konsentieren.

In höchstem Maße unseriös ist die bisherige Übung

  • die notwendige Lösung der Präputialadhäsionen bei der Brit Mila als Banalität (oder gar nicht) darzustellen,
  • eine Blutstillung und Wundnaht für „nicht notwendig“ zu erklären
  • eine operative Schmerzausschaltung und postoperative Schmerztherapie mit unzureichenden Maßnahmen und Medikamenten oder einer Überdosierung und Fehlanwendung von EMLA zu propagieren.

Ich hoffe auf eine breite Diskussion unter allen Fachdisziplinen, die an der Durchführung ritueller und medizinisch indizierter Zirkumzisionen beteiligt sind. Und ich hoffe darauf, daß die Religionsgemeinschaften die von ihnen durchgeführten Verfahren abstimmen und transparent machen. 

Es geht hier um eine in höchstem Maße schützenswerte Patientenklientel. Kindern, die sich verbal noch nicht äußern können und keinerlei Möglichkeit haben, das ihnen Angetane angemessen zu verarbeiten, steht es zu, daß die neusten Ergebnisse der Forschung Anwendung finden, um ihnen Schmerz und Folgeschäden zu ersparen. 

Literatur

  1.  Walter-Nicolet E, Annequin D, Biran V, Mitanchez D, Tourniaire B: Pain management in newborns: from prevention to treatment. Pediatr Drugs 2010;12:353-65 http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00…mcision&rank=38 
  2.  Roth B: 2. Stellungnahme zum Leserbrief. Anästh Intensivmed 2014;55:29-33
  3.  http://www.ethikrat.org/sitzungen/2012/dokumente-plenarsitzung-23-08-2012
  4.  http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/31_Beschneidung/04_Stellungnahmen/index.html
  5.  Rosen M: Anesthesia for ritual circumcision in neonates. Pediatric Anesth 2010;20:1124-27
  6.  http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/31_Beschneidung/04_Stellungnahmen/index.html (Stellungnahme Graf)