Geschichte

Bis zum späten 19. Jahrhundert waren sich Ärzte bewußt, daß Säuglinge Schmerzen fühlen konnten [1]. Doch 1872 stellte Paul Emil Flechsig die Behauptung auf, daß Säuglinge keinen Schmerz empfinden, weil „ihre Nerven nicht vollständig myelinisiert“ seien. Erstaunlicherweise setze sich diese Vorstellung durch, und Operationen aller Art – selbst Operationen am offenen Herzen – wurden bis in die 1980er Jahre an Säuglingen fast ohne jedwede Betäubung durchge-führt. Es wurden lediglich Lachgas und curareartige Präparate verwendet, um die Muskeln des Säuglings zu lähmen [2,3].

Wissenschaftliche Forschungsarbeiten über den Schmerz bei Neugeborenen wiesen ab 1970 zunächst nach, daß durch eine Neugeborenenbeschneidung „Streß“ ausgelöst wurde [3,4,5,6]. Talbert et al belegten 1976 einen Anstieg des Streßhormons Cortisol im Blutserum während der Beschneidung [7]. Dies wurde durch die Befunde von Gunnar et al. 1981 bestätigt [8].

Erst eine Studie von Anand und Hickey, die im New England Journal of Medicine im November 1987 veröffentlicht wurde, belegte unter der Rubrik „The Circumcision Reference“ die Existenz eines ausgereiften und funktionsfähigen Schmerzsystems bei Neugeborenen [9]:

Die Dichte der Nervenendigungen für Schmerzen in der Haut von Neugeborenen und Erwachsenen ist vergleichbar. Schmerznerven finden sich ab der 20. Schwangerschaftswoche in allen Haut- und Schleimhautoberflächen. Die Schmerzleitung im Rückenmark ist in der 30. Schwangerschaftswoche abgeschlossen, ebenso die Verbindung zu Hirnstamm und Thalamus (Schmerzzentrale des Gehirns). Die synaptische Verbindung zur Großhirnrinde steht zwischen 20. und 24. Schwangerschaftswoche. Ihre funktionelle Reife ist bereits seit 1987 durch EEG-Untersuchungen belegt. Neugeborene haben somit alle anatomischen und funktionellen Komponenten für die Reaktion auf schmerzhafte Reize.

Verhaltensänderungen bei Schmerzen können von anderen Reaktionen differenziert werden. Auch wenn das Schreien eines Babys Reaktion auf vielerlei Reize ist, so ist eine Klassifizierung nach der Ursache seit den 1980er Jahren etabliert. Neugeborene sind schmerzempfindlicher als 3 – 12 Monate alte Kinder. Ihre Schlaf-Wach-Rhythmen werden durch schmerzhafte Prozeduren dauerhaft verändert. Sie haben Auswirkungen auf die neurologische und psychosoziale Entwicklung. Bereits Neugeborene haben voll ausgebildete und funktionsfähige Erinnerungsspuren für Schmerzen.

Die hormonellen und metabolischen neurochemischen Systeme (CRH-System und endogene Opioide) sind ab der 20. Schwangerschaftswoche in der Lage, auf Schmerzen zu reagieren. Die Sauerstoffsättigung fällt bei Schmerzen relevant ab 
[10].

Der Peniswurzelblock (PWB), im englischen häufig als Dorsal Penile Nerve Block (DPNB) bezeichnet, wurde das erste Mal 1978 von Kirya und Werthmann beschrieben [11]. Vor diesem Zeitpunkt wurden Neugeborenenbeschneidungen grundsätzlich ohne Anästhesie durchgeführt. Auch bei einem Peniswurzelblock waren die Kortisol-Spiegel während einer Zirkumzision denen einer Zirkumzision ohne Anästhesie vergleichbar. Ursachen dafür können ein inkompletter Block, der typische Brennschmerz bei der Anlage der Lokalanästhesie oder eine bei 30 % der Individuen vorhandene Nervenversorgung der Unterseite des Penis direkt aus den Dammnerven sein [12-16]. Nicht vernachlässigt werden dürfen auch die typischen Komplikationen des Peniswurzelblocks bis hin zur systemischen Resorption mit generalisiertem Krampfanfall [17,18,19].

Der Amerikanische Kinderärzteverband, die American Academy of Pediatrics (AAP) veröffentlichte seine Positionserklärung zur Schmerzbehandlung bei Neugeborenen im September 1987 [20]. Die AAP erklärte, „dass lokale oder systemische pharmakologische Wirkstoffe, die nun erhältlich sind, eine relativ sichere Verabreichung von Anästhesie oder Analgesie an Neugeborene, die chirurgischen Eingriffen unterzogen werden, gestattet und dass eine solche Verabreichung gemäß den gewöhnlichen Richtlinien zur Verabreichung von Anästhesien an potentiell instabilen, Hoch-Risiko-Patienten indiziert ist.“ Der Kanadische Kinderärzteverband, die Canadian Paediatric Society, erklärte: „Es gibt deutliche Beweise für die Notwendigkeit einer Schmerzbehandlung [bei der Beschneidung von Neugeborenen]“. Der Australische Kinderchirurgenverband, die Australian Association of Paediatric Surgeons verurteilte die nicht-therapeutische Beschneidung von Minderjährigen. Sollte diese dennoch durchgeführt werden, schrieb sie fest:

„...[D]er Eingriff sollte elektiv nach dem 6. Lebensmonat durchgeführt von einem Chirurgen durchgeführt werden, der regelmäßig Beschneidungen an Kindern vornimmt, zusammen mit einem Anästhesisten, der angemessene Anästhesietechniken anwendet. Dies bedeutet, dass der Anästhesist in Bezug auf die pädiatrische Anästhesie vollumfänglich ausgebildet ist und schließt die Fähigkeit zur Durchführung von kaudalen sowie regionalen oder lokalen penilen Anästhesien mit ein.“

Trotz dieser Erkenntnisse wurde die Praxis der betäubungslosen Neugeborenenbeschneidung fortgesetzt. Dies ermöglichte es Ärzten, Experimente zur Untersuchung der Parameter von extremen Schmerzen an menschlichen Babys durchzuführen, deren Durchführung an Labortieren verboten wäre [21].

Bis heute veröffentlichte Studien zum Thema vergleichen die Reaktionen bei der Beschneidung unter diversen „Anästhesie“-Methoden gegen die Reaktionen bei der unanästhesierten Beschneidung (= placebokontrollierte Studien). Eine Kontrollgruppe von Kindern, die keiner Operation unterzogen werden, fehlt. Ebenso fehlt ein Vergleich mit den Reaktionen einer Kontrollgruppe unter Anwendung der besten verfügbaren Methode, der Allgemeinanästhesie, die in Deutschland das Standardverfahren für medizinisch indizierte Vorhautoperationen ist. Die S1-Leitlinie Phimose und Paraphimose der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie 8/2013 schreibt auf S. 3 [22]:

„Die Operation erfolgt in Allgemeinanästhesie, ergänzt durch eine Leitungsanästhesie (Penis-, alternativ Kaudalblock).“

Im Buch „Male and Female Circumcision“, herausgegeben von Denniston, Hodges und Milos (1998, ISBN 0-306-46131-5), findet sich ein immer noch erschreckend aktuelles Buchkapitel „Anaesthesia for Circumcision“. In diesem beschreibt, erfaßt und belegt Robert S. Van Howe umfassend auf der Grundlage von 216 Literaturhinweisen die unzureichenden Betäubungsversuche um diesen Eingriff.

Die Durchführung plazebokontrollierter Studien zur medizinisch nicht indizierten Beschneidung widerspricht den wissenschaftlichen Standards der Deklaration von Helsinki, Stand 2008 [23,24]:

C 32. Nutzen, Risiken, Belastungen und die Wirksamkeit einer neuen Maßnahme muss mit denjenigen der gegenwärtig besten erwiesenen Maßnahme verglichen werden, außer unter folgenden Umständen:

  • Die Verwendung eines Placebos oder die Nichtbehandlung ist bei Studien akzeptabel, wenn keine gegenwärtig erwiesene Maßnahme existiert, oder
  • wenn die Verwendung eines Placebos aus zwingenden und wissenschaftlich fundierten methodischen Gründen notwendig ist, um die Wirksamkeit oder Sicherheit einer Maßnahme festzustellen, und wenn die Patienten, die ein Placebo oder keine Behandlung erhalten, keinem Risiko eines ernsten oder irreversiblen Schadens ausgesetzt werden.

Mit großer Sorgfalt muss ein Missbrauch dieser Option vermieden werden.

Literatur:

  1.  Cope DK: Neonatal Pain: The Evolution of an idea. The American Association of Anesthesiologists Newsletter, September 1998. 
  2.  Anand KJ, Sippell WG, Aynsley-Green A. Randomised trial of fentanyl anaesthesia in preterm babies undergoing surgery: effects on the stress response. The Lancet 1987;1(8524):62-6.
  3.  Anders T, Sachar E, Kream J et al. Behavioral state and plasma cortisol response in the human neonate. Pediatrics 1970; 46(4):532-537.
  4.  Emde RN, Harmon RJ et al. Stress and neonatal sleep. Psychosomatic Medicine, Vol 33, No. 6 (November-December 1971), Pages 491-497.
  5.  Tennes K, Carter D. Plasma cortisol levels and behavioral states in early infancy. Psychosom Med 1973; 35:121-128.
  6.  Anders TF, Chalemian RJ. The effects of circumcision on sleep-wake states in human neonates. Psychosom Med 1974; 36:174-9.
  7.  Talbert LM. et al. Adrenal cortical response to circumcision in the neonate. Obstet Gynecol 48:208-210, Aug. 1976.
  8.  Gunnar MR, Fisch RO, Korsvik S, Donhowe JM. The effects of circumcision on serum cortisol and behavior. Psychoneuroendocrinology 1981; 6: 269-75.
  9.  Anand KJS, Hickey PR: Pain and its effects in the human neonate and fetus. N Engl J Med 1997; 317:1321-1329
  10.  Rawlings DJ, Miller PA, Engel RR. The effect of circumcision on transcutaneous PO2 in term infants. Am J Dis Child 1980; 134: 676-8
  11.  Kirya C, Werthmann MW Jr. Neonatal circumcision and penile dorsal nerve block--a painless procedure. J Pediatr 1978; 92: 998-1000.
  12.  Toffler WL, Sinclair AE, White KA. Dorsal penile nerve blockduring newborn circumcision: underutilization of a proven technique? J Am Board R´Fam Pract 1990;3:171-4
  13.  Wiswell TE: Routine neonatal circumcision. Am Fam Physician 1990;42:1536-7
  14.  Kaneko S, Bradley WE: Penile electrodiagnosis: penile peripheral innervation. Urology 1987;30:210-2
  15.  Masciello AL. Anesthesia for neonatal circumcision: local anesthesia is better than dorsal penile nerve block. Obstet Gynecol 1990; 75: 834-8. 
  16.  Hardwick-Smith S, Mastrobattista JM, Wallace PA, Ritchey ML. Ring block for neonatal circumcision. Obstet Gynecol 1998;91(6):930-4.
  17.  Sara CA, Lowry CJ. A complication of circumcision and dorsal nerve block of the penis. Anaesth Intensive Care 1985; 13: 79-82.
  18.  Berens R, Pontus SP Jr. A complication associated with dorsal penile nerve block. Reg Anesth 1990; 15: 309-10.
  19.  Snellman LW, Stang HJ.Prospective evaluation of complications of dorsal penile nerve block for neonatal circumcision. Pediatrics 1995; 95: 705-708.
  20.  American Academy of Pediatrics. Neonatal anesthesia. Pediatrics 1987;80(3):446.
  21.  Cold CJ: Neonatal circumcision. Lancet 1997;349:1257-8
  22.  S1-Leitlinie Phimose und Paraphimose 8/2013 der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie, S. 3
  23.  http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/deklHelsinki2008.pdf
  24.  Van Howe RS, Svoboda JS: Neonatal Pain Relief and the Helsinki Declaration. Journal of Law, Medicine & Ethics 2008, 803-823
  25.