Schmerz ist nicht einfach nur eine Missempfindung. Schmerz ist einer der „Melder“ der Alarmanlage des Körpers. Ein drohender oder bestehender Gewebeschaden wird durch die „Melder“ der Alarmanlage, spezielle Sinnesfühler für Schmerz, erkannt [1].
Es gibt sinnvolle Schmerzen, z.B. als Reaktion auf mechanische Reize, Temperaturreize oder chemische Substanzen. Sie signalisieren dem Körper, daß er sich aus der gefährlichen Umgebung entfernen muss oder dass er ein verletztes Körperteil schonen soll, damit es heilen kann. Und es gibt sinnlose Schmerzen, zum Beispiel bei einer Operation ohne Anästhesie, aber auch Schmerzen bei Tumorerkrankungen. Hier hat die Alarmfunktion des Symptomes „Schmerz“ keinen Nutzen für den Körper. Die mit dem Schmerz verbundenen vielfältigen Reaktionen fügen dem Organismus in diesen Fällen sogar Schaden zu.
Der Organismus ist ständigen z. T. extremen Veränderungen der inneren und äußeren Bedingungen ausgesetzt (z. B. Hunger, Temperaturschwankungen), so daß ein koordiniertes Zusammenspiel von Mechanismen erforderlich ist, um die strukturelle und funktionelle Integrität aufrechtzuerhalten. Der Körper verfügt daher über ein Netzwerk kybernetischer Rückkopplungssysteme, die der Stabilisierung vorgegebener Zustände (= Homöostase) dienen. Schmerzen greifen massiv in diese Rückkopplungssysteme ein.
Die Schmerzinformation erreicht über die Rückenmarksbahnen zunächst das Stammhirn mit seinen vegetativen Zentren und wird dann im Schmerzzentrum des Zwischenhirns, dem Thalamus, verarbeitet und verändert, bevor die Information das Großhirn erreicht und damit ins Bewusstsein gelangt.
Dabei kommen mit zunehmendem Lebensalter auch schmerzdämpfende Wirkungen zum Einsatz, über die das Neugeborene noch nicht verfügt. Erst der erwachsene Mensch hat eine sehr wirksame körpereigene Schmerzabwehr, deren Ursprung im Hirnstamm liegt. Über lange, von dort im Rückenmark absteigende Nervenbahnen werden schmerzempfindliche Zellen gehemmt, indem z.B. körpereigene Opioide ausgeschüttet werden.;
Der Thalamus unterhält enge Verbindungen zum Hypothalamus, wo Zustandsmeldungen aus dem Organismus zusammenlaufen und das Zusammenwirken zwischen hormonproduzierenden Organen und autonomem Nervensystem durch Sekretion von stimulierenden und hemmenden Hormonen koordiniert wird.
Aufgabe des Hypothalamus ist die hormonelle Kontrolle der Hirnanhangdrüse (Hypophyse). Über Botenstoffe (z. B. Noradrenalin, Acetylcholin, Serotonin, Dopamin und g-Amino-Buttersäure) übt er eine direkte Kontrolle aus.
Das Hypothalamische Hormon Corticotropin-releasing-Hormon (CRH) stimuliert in der Hypophyse unter anderem die Freisetzung von ACTH und b-Endorphin. Außerdem beeinflusst es den Stoffwechsel, bewirkt eine Stimulation des Sympathikus und führt zu Verhaltensänderungen [2,3,4].
Dieses Zusammenspiel ist als Streßreaktion bekannt, die für das akute Überleben in Notsituationen absolut notwendig ist (Flucht- und Kampfreaktion):
Ohne eine Notsituation oder die Möglichkeit, darauf zu reagieren, sind erhöhter Sauerstoffverbrauch, vermehrte Herzarbeit und gesteigerte Anforderungen an die Atmung allerdings unnötig und belasten den Körper. Das Neugeborene kann sich weder verteidigen noch weglaufen, so daß diese Energiebereitstellungsmechanismen bestenfalls sinnlos, schlimmstenfalls sogar belastend für sein labiles System sind (siehe „Umstellungen bei der Geburt“).
Auch die streßtypischen hormonellen Veränderungen sind nur sinnvoll, wenn der Mensch auf die Notsituation reagieren kann, in der er aktiv eine Gefährdung abwehren oder sich aus einer Gefahrensituation entfernen muß und kann:
Kortisol greift in Wachstums-, Entwicklungs- und Immunprozesse ein. Es begünstigt die Wirkung von Adrenalin, steigert die Adrenalinsynthese und stimuliert das sympathische Nervensystem. Kortisol hat im Stoffwechsel überwiegend Abbau-Funktionen, fördert die Wassereinlagerung, steigert den Blutzuckerspiegel und wirkt dämpfend auf das Immunsystem [5,6,7]. Dies kann zu Wundheilungsstörungen führen. Unter der Wirkung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin steigt die Herzfrequenz und der Sauerstoffverbrauch, der Körper schwitzt vermehrt und der Blutzuckerspiegel steigt.
Typische Streßindikatoren sind solche Hormone, die bei Belastung regelmäßige, schnelle und reproduzierbare Veränderungen zeigen und die eine gewisse Korrelation zur Intensität der Belastung besitzen [8]. Dies sind Adrenalin, Noradrenalin, Vasopressin und die Hormone des hypothalamohypophysären Systems (ACTH, ß-Endorphin, Kortisol) [9 - 18].
Die Reaktion auf ein nicht bewußt erlebtes Trauma setzt eine ungestörte Nervenverbindung zwischen dem betroffenen Wundgebiet und dem Zentralnervensystem voraus. Bei einer Operation an einem Querschnittsgelähmten bleibt der übliche Kortisolanstieg aus [19].
Bei starken Schmerzreizen wird Glutamat in großen Mengen im Rückenmark freigesetzt. Dies führt nicht nur zu einer kurzen Schmerzempfindung sondern kann auch langandauernde Veränderungen im Nervensystem einleiten. Insbesondere kann die Übertragungsstärke zwischen den Schmerzfühlern und dem Rückenmark anhaltend potenziert werden. Auch schwache Schmerzreize können in der Folge eine Reaktion und Schmerzempfindung wie starke Schmerzen auslösen.Taddio et al stellten 1997 fest, dass Jungen, die als Neugeborene mit unzureichender Betäubung beschnitten wurden, noch im 6. Lebensmonat Verhaltensveränderungen aufzeigen, welche auf eine infantile Entsprechung der Posttraumatischen Belastungsstörung hindeuten [20 - 23].
Außerdem können starke Schmerzreize zur Aktivierung „schlafender“ Gene führen (immediate early genes). Dies kann zur zentralen Sensibilisierung beitragen. Einzige Möglichkeit, solche Sensibilisierungen zu verhindern, ist eine vorbeugende Schmerzausschaltung. Im Falle einer Operation also eine rechtzeitig eingeleitete und wirksame Anästhesie. Keines der heute zugelassenen Schmerzmedikamente ist in der Lage, ein bereits entstandenes Schmerzgedächtnis wieder zu löschen. Ein vorausgegangenes Trauma verstärkt z.B. den Kortisol-Anstieg bei einer Sauerstoffunterversorgung [24].
Porter et al. dokumentierten mit zunehmender Invasivität des durchgeführten Eingriffs starke verhaltensbezogene und physiologische Reaktionen [25]. Die Beschneidung wurde als ein höchst invasiver Eingriff klassifiziert. Fitzgerald berichtet über neurologische Veränderungen, die sie in ihren Studien feststellte [26,27,28]. Exzessive Aktivität (Schmerzempfindungen) in den sich noch entwickelnden und plastischen Nervenbahnen des Neugeborenen kann mit großer Wahrscheinlichkeit permanente Strukturveränderungen verursachen. Rhinehart dokumentierte bei Männern mittleren Alters posttraumatische Belastungsstörungen als Folge ihrer Beschneidung im Neugeborenenalter [29]. Anand und Scalzo legten nahe, daß frühe schädliche Erlebnisse spätere Belastungsstörungen, Hyperaktivität oder selbstzerstörerisches Verhalten zur Folge haben können [30 - 34]. Auch die frühe Mutter-Kind-Beziehung wird beeinträchtigt [35].
Erst ab dem Alter von sechs Monaten bis zwei Jahren sind komplexe Reaktionen auf Schmerzen möglich. Das Vertrauensverhältnis zu Bezugspersonen kann nachhaltig gestört werden. Kinder von zwei bis fünf sind sehr empfindsam und haben zahllose Ängste. Sie sind sich einer bedrohlichen Umgebung sehr bewußt, verfügen jedoch über keine Abwehrmechanismen und Fertigkeiten, um die Einwirkung der fremden Umgebung allein zu bewältigen. Sie erkennen instinktiv gefährliche Situationen. Der Realitätssinn von Vorschulkindern ist schwach ausgebildet (Welt voller Magie und Monster), besonders groß ist die Furcht vor Verstümmelung oder körperlicher Verletzung. Dies alles sind Gründe, bei Kindern zwischen 3 und 5 Jahren möglichst keine nicht dringlichen Eingriffe durchzuführen. Aus denselben Gründen sollen bei Vorschulkindern keine isolierten Regionalanästhesieverfahren durchgeführt werden. Die Anlage von Regionalanästhesieverfahren erfolgt — von extremen Ausnahmen abgesehen — am narkotisierten oder tief sedierten Kind [36].
Die jahrelangen Forschungsergebnisse spiegeln sich auch in den „Handlungsempfehlungen zur perioperativen Schmerztherapie bei Kindern“ des Arbeitskreises Kinderanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) wieder [37]:
„Kinder können ab der 24. Gestationswoche Schmerzen empfinden. Schmerzen werden um so stärker empfunden je jünger die Kinder sind. Schmerzen werden um so stärker empfunden je jünger die Kinder sind. Schmerzhafte, nozizeptive Erfahrungen im frühen Kindesalter verändern die Schmerzantwort bei inadäquater Schmerztherapie deutlich.“
Das Spektrum der Methoden zur Schmerzmessung wurde in den vergangenen Jahren deutlich erweitert. In der Literatur gibt es keine Evidenz, die eine Beziehung zwischen subjektiver Schmerzstärke einerseits und Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz und Plasmaadrenalinspiegel (Streßparameter des sympathischen Nervensystems) andererseits verläßlich belegt.
Auch ein Fehlen von Streßzeichen des sympathischen Nervensystems beweist nach der neueren Forschung nicht, daß der Mensch keine Schmerzen hat. Lenk und Wedowski wiesen 2013 in einer Studie an Erwachsenen nach, daß ein intensives Schmerzerleben ohne eine Streßreaktion des sympathischen Nervensystems möglich ist [38]. Sie schlußfolgerten, dass
die Abwesenheit von Zeichen sympathischen Stresses nicht als Garant für die Abwesenheit von Schmerzen gesehen werden darf. Schmerz bleibt eine subjektive Erfahrung, und wir sind weiterhin auf die Kooperation des Patienten angewiesen.
Die meisten Studien der Vergangenheit, die die Beschneidungsschmerzen von Neugeborenen untersuchten, nutzten ausschließlich Verhaltensbeobachtungen (z.B. Mimik, Schreibeginn, -intensität und Schreidauer) und Streßreaktionen des sympathischen Nervensystems zum Beleg der Wirksamkeit diverser Methoden. Vor dem Hintergrund der neuen Studien ist die Aussagekraft von Studien mit ausschließlich „weichen“ Kriterien der Schmerzmessung äußerst fragwürdig.
Bei kritischer Betrachtung der Studienlage zum Neugeborenenschmerz ist zudem auffällig, daß diese „weichen“ Kriterien vorwiegend zum Beleg der Wirksamkeit solcher Methoden zum Einsatz kommen, die bei Kindern, die ihre Schmerzen verbal äußern können, nicht angewandt werden (z.B. Glucose, EMLA®, Paracetamol®, Stillen). Zu denselben angeblich schmerzdämpfenden Methoden werden auch vorzugsweise placebokontrollierte Studien durchgeführt, die allenfalls belegen könnten, daß diese Methoden „besser als gar nichts“ sind. Bei jedem Vergleich der „Wirksamkeit“ dieser Methoden mit dem bei medizinisch indizierten Vorhautoperationen etablierten Schmerzausschaltungsverfahren der Allgemeinanästhesie schneiden sie allenfalls jämmerlich ab. Die Deklaration von Helsinki fordert aber gerade für vulnerable Patientengruppen den Vergleich mit der besten erwiesenen Maßnahme (siehe Kapitel „Geschichte“).
Van Howe faßte die Studienlage und Praxis der unzureichenden Schmerzausschaltung bei der Neugeborenenbeschneidung 1997 wie folgt zusammen [39]:
„Do we use ineffective anaesthesia, that would not be acceptable to older children and adults, on newborns because of cost savings, or simply because we can get away with it?“
„Verwenden wir bei Neugeborenen ineffektive Anästhesiemethoden, die bei älteren Kindern und Erwachsenen nicht akzeptabel wären, wegen der Kostenersparnis oder einfach, weil wir damit durchkommen?“
2010 setzte eine Untersuchung von Slater et al. ein mehr als dickes Fragezeichen hinter die behauptete Wirksamkeit von Glucosegaben zur Schmerzunterdrückung bei Früh- und Neugeborenen [40]. In dieser Studie wurden außer Verhaltensbeobachtungen und Messungen von sympathischen Streßparametern auch EEG- und EMG-Ableitungen durchgeführt. Die zusätzlichen Messungen mit effizienteren Methoden gaben einen deutlichen Hinweis darauf, daß ein Neugeborenes, das „von außen“ weniger schmerzgeplagt aussieht, dies nicht notwendigerweise auch so erlebt.
Slater et al. schließen ihre „Author’s reply“ zutreffend mit den Worten:
„What our study did show is that we cannot afford to make assumptions about analgesia simply because of an unfounded belief that the PIPP score taps into the infant „pain experience“ when direct measurements from the infant brain are telling another story.”
„Was unsere Studie in der Tat zeigte, ist, dass wir nicht einfach Vermutungen über eine analgetische (schmerzlindernde) Wirkung anstellen dürfen auf der Basis eines unbegründeten Glaubens, dass der PIPP das „Schmerzerlebnis“ des Säuglings abbildet, wenn direkte Messungen am Gehirn des Säuglings uns etwas ganz anderes erzählen.“
EEG- und EMG-Ableitungen sind schon lange bekannt, ebenfalls die Aussagekraft der Blutspiegel sogenannter Streßhormone wie Kortisol und ß-Endorphinen. Bereits in der Studie von Anand und Hickey (siehe Kapitel „Geschichte“) wurden diese Methoden 1997 verwendet. Um so befremdlicher ist es, dass solche Methoden der Schmerzbeurteilung auch bei neueren Studien nicht regelhaft angewandt werden [41 - 63].