DER UNGNÄDIGSTE ALLER SCHNITTE

13. Januar 2003 

Beschneidungen sind häufig unnötig, schädigend und werden ohne Zustimmung ausgeführt, wie unser Korrespondent berichtet

von Simon Crompton 

ES GIBT EINE BESTIMMTE OPERATION, die an tausenden britischen Kindern von NHS-Ärztinnen und -Ärzten ohne klinische Notwendigkeit durchgeführt wird – und das ohne Einwilligung des Patienten. Dieser Eingriff hat irreversible körperliche Auswirkungen, trotzdem war die öffentliche Debatte über das Ausmaß, in dem dieser Eingriff ausgeführt wird, bislang äußerst gering. 

[NHS: „National Health Service“, das gesetzlich verankerte, staatliche Gesundheitswesen Großbritanniens seit 1948,  Anm. d. Red.]

Dieser Eingriff ist die nichtreligiöse Beschneidung, welche aus „therapeutischen“ Gründen an 4 bis 6 Prozent aller Jungen unter 15 durchgeführt wird. Mehr und mehr geht der Experten-Konsens dahin, dass die meisten nichtreligiösen Beschneidungen aus Gründen der Familiengeschichte, medizinischer Mythen und Berufsträgheit durchgeführt werden. Einige Aktivisten behaupten, dass nicht weniger als fünf von sechs dieser Beschneidungen unnötig und potenziell traumatisierend sind.

Beschneidung wurde mittlerweile zum Gegenstand heftiger Debatten in den USA, wo 80 Prozent der Männer beschnitten sind. „Doctors Opposing Circumcision“ ist eine aus einer Reihe von Gruppen, die die ärztliche Orthodoxie der Beschneidung bei der Geburt infrage stellt; ihre Kampagne wurde von einer Stellungnahme der „American Medical Association“ [Amerikanischer Ärztebund] ausgelöst, nämlich dass die Beweise für einen Nutzen der Beschneidung nicht genug Substanz beinhalten, um routinemäßige Neugeborenenbeschneidung zu empfehlen. 

Hierzulande überarbeitet die „British Medical Association“ [Britischer Ärzteverband] ihre Leitlinien und wird ihre Ergebnisse im März veröffentlichen. Die gegenwärtige Leitlinie stellt klar, dass es unethisch ist, aus therapeutischen Gründen zu beschneiden, wo die Forschung erwiesen hat, dass weniger invasive Verfahren verfügbar sind.  

„Norm-UK“, eine Organisation, die sich gegen Beschneidung einsetzt, schätzt, dass weniger als 1 Prozent der Jungen einer Operation bedürfen, und dass der Großteil der vom NHS ausgeführten Beschneidungen unnötig sind. Dr. John Warren, beratender Arzt und Gründer von „Norm-UK“, erklärt das Hauptproblem, nämlich dass Hausärzte und Allgemeinchirurgen die Forschungsarbeiten gar nicht kennen, welche darlegen, wann überhaupt eine Zirkumzision medizinisch notwendig ist. Spezialisierte Kinderurologen sind besser informiert, aber nicht alle Kinder werden von diesen Experten untersucht.  

Die meisten nichtreligiösen Zirkumzisionen werden an Kindern durchgeführt, deren Eltern über eine enge Vorhaut besorgt sind, welche sich nicht zurückschieben lässt; ein Zustand, der als Phimose bezeichnet wird. "Sie denken, dass da etwas nicht stimmt, auch wenn es dem Kind keine Probleme bereitet“, erklärt Warren, der am „Princess Alexandra Hospital“ in Harlow in Essex arbeitet. Aber Forschungsarbeit, die bereits im Jahr 1968 veröffentlicht wurde, zeigte, dass 90% der engen Vorhäute sich von selbst bis zum Alter von 4 Jahren gelöst hatten [Achtung, diese Angaben wurden in der Times durcheinander gebracht: Sie beziehen sich nämlich auf eine ältere Studie von 1949; der zitierten Studie von 1968 zufolge werden die 90% erst mit 16 Jahren erreicht! Anm. d. Red.] und 99% aller Vorhäute sich bis zum Alter von 17 Jahren normal entwickelt hatten." Diese Erkenntnis sickerte nie durch, und eine Menge Leute akzeptierten sie einfach nicht." erklärt Warren. 

[Diese Erkenntnis sickerte offensichtlich auch nicht zu den Autoren der Phimose-Leitlinien deutscher Ärzteverbände durch, die sich auf die unvollkommene Studie von 1949 beziehen, auf deren wissenschaftliche Unzulänglichkei und Störfaktoren sogar der Studienautor selbst, Dr. D. Gairdner, hinwies. Anm. d. Red.

Auch die Familientradition spielt ihre Rolle. Väter und Großväter, die beschnitten wurden, wollen vielleicht, dass ihre Jungen auch beschnitten sind (oft mit der Begründung, dass das „sauberer“ sei), und benutzen die Möglichkeit einer Phimose, den Arzt dazu zu bringen, den Eingriff vorzunehmen. Duncan Wilcox, beratender Kinderurologe am „Great Ormond Street Hospital“ und „Guy's Hospital“ in London, sieht darin sogar den Hauptgrund dafür, warum so viele Beschneidungen unnötigerweise durchgeführt werden.

„Immerhin die Hälfte der Eltern, die bei mir vorstellig werden, wollen, dass ihr Kind beschnitten wird,“ schildert er, „aber wenn ich ihnen auseinandersetze, dass damit sehr wohl ein Risiko verbunden ist, wie bei allen Operationen, so ist die Mehrheit doch gerne bereit abzuwarten ob sich die Vorhaut nicht doch früher oder später normal zurückschieben lässt. Ärzte werden sicherlich unter Druck gesetzt und es gibt immer gelegentlich den Elternteil, der sich durch pure Hartnäckigkeit letztlich durchsetzt, bespielsweise auch mit der Behauptung, das Kind bekäme ständig Infektionen.“ Diese Angelegenheit wäre weniger bedeutsam, hätte die Vorhautentfernung nicht ihre körperlichen und sozialen Auswirkungen, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. 

Alex unterzog sich mit 25 einer Operation zur Korrektur einer Krümmung seines Penis und wachte als Beschnittener auf. Der Chirurg hatte eigenmächtig entschieden die Vorhaut zu entfernen – ohne Alex' Einwilligung–, eine Tat, deren Unnötigkeit mittlerweile von anderen Chirurgen bestätigt wurde. „Es war ein Riesenverlust an erogenem Gewebe“, berichtet Alex, jetzt 29, ein Systemanalyst aus Oxfordshire. „Das Lustempfinden hat sich so sehr verändert, dass ich seit der Operation nicht mehr fähig bin einen Orgasmus zu erreichen. Das hatte katastrophale Folgen für meine Beziehung: Meine Partnerin begann sich zu fragen, ob das ihre Schuld sei, und das läutete das Ende unserer Beziehung ein. Seitdem ist es für mich praktisch unmöglich eine neue Beziehung einzugehen.“

„Ich schäme mich für mein Aussehen und meine Freundinnen haben mir schon spöttisch-zweifelnde Blicke zugeworfen. Sie sind nicht an den Anblick beschnittener Männer gewöhnt. Ich hatte auch seit der Operation nicht mehr das Selbstvertrauen einen öffentlichen Umkleideraum zu betreten.“

Die Vorhaut enthält eine reiche Bandbreite und hohe Konzentration an spezialisierten Nervenrezeptoren. Im März 2002 legte eine Studie im „British Journal of Urology“ dar, dass die Zirkumzision eine beeinträchtigte Erektionsfähigkeit wie Penissensitivität bewirkt. 38% Prozent der als Erwachsene beschnittenen Männer klagten demnach über Beschädigungen ihrer sexuellen Funktionen.  

Die Praktik der medizinischen Beschneidung (abweichend von der religiösen) begann in der sogenannten Viktorianischen Ära als Abschreckung gegen Masturbation, damals für die Ursache von Schwachsinn, Epilepsie, Tuberkulose, Kurzsichtigkeit und Tod gehalten. Die Praktik wurde in den 1920ern aus Gründen der Hygiene populär und gipfelte in den 1940ern. Ab 1949 begannen die Forscher die Auffassung, eine nicht zurückschiebbare Vorhaut wäre abnormal, infrage zu stellen, damit fielen seither die Beschneidungzahlen. [Genauer begann die Beschneidungsrate bereits in der zweiten Hälfte der 1940er zu sinken, aber das Jahr 1949 stellt unbestritten ein Kehrtwende dar. In diesem Jahr wurde D. Gairdners Artikel „The Fate of The Foreskin“ eröffentlicht, der einen rasanten Fall der Beschneidungsrate in Großbritannien und, mit gewisser Verzögerung, in Neuseeland und Australien bewirkte. Sein Artikel ist, wie oben bereits erwähnt, ein zweischneidiges Schwert: Ironischerweise missbrauchen zweifelhafte Organisationen, die über das Internet routinemäßige Beschneidung propagieren, gerne noch die veralteten Werte über die Entwicklung der Vorhaut aus Gairdners kritischem Beschneidungsartikel, um so die Beschneidungszahlen möglichst hoch zu halten.]  

„Norm-UK“ hat hunderte Anrufe erhalten von Männern, die sich durch den Eingriff entwürdigt, gedemütigt oder verstümmelt fühlen. Einen andersartigen Penis zu haben als die Freunde ist naheliegenderweise für viele kleine Jungen möglicherweise sehr peinlich. Und doch ist die psychologische Streitfrage kompliziert: In einer mehrheitlich jüdischen oder islamischen Gemeinschaft wirkt dieses Argument genauso für die Beschneidung wie dagegen. Dr. Lotte Newman, ehemalige Vorsitzende des „Royal College of General Practitioners“ [Königliches Kollegium der Allgemeinmediziner], die nunmehr dem Beschneidungsarbeitskreis des „Board of Deputies of British Jews“ [Abgeordnetenausschuss britischer Juden] vorsteht, ist von den Entwicklungen in Schweden beunruhigt, welche zu einem dortigen Verbot der Kinderbeschneidung führen könnten. „Der Trend gegen die Beschneidung wirkt sich auf diejenigen Religionen aus, die sie traditionell ausführen“, befindet sie. 

Solche Empfindlichkeiten sind vielleicht der Grund für den gleichmütigen Standpunkt von Mainstream-Ärzteorganisationen, wie etwa dem „General Medical Council“, welches nur verlautbart, dass seine Sondierungen „weit auseinanderklaffende Ansichten in der Gesellschaft aufgedeckt haben, die weder Ärzte noch das GMC lösen können.“

Möglicherweise ist es letztendlich eine Frage der Zustimmung. Erwachsene müssen über Alternativen informiert werden um eine präzise Basis zur Entscheidungsfindung zu haben. Das Anliegen von „Norm-UK“ geht sogar darüber hinaus, nämlich dass niemand in die Beschneidung einer anderen Person einwilligen sollte, auch nicht beim eigenen Kind. Das bedeutet alle verfügbaren Mittel einzusetzen um Penisprobleme konservativ zu behandeln, bis der informierte Patient selbst eine bewusste Entscheidung treffen kann.  

„Im Kindesalter wurde ich beschnitten, mein Bruder jedoch nicht“, berichtet Warren. „Dies machte mich in meiner Zeit als Medizinstudent sensibel für das Thema. Dann musste ich die Operation selbst durchführen und war entsetzt über meine Tätigkeit. Ich dachte, eines Tages werde ich dieser absurden Praktik ein Ende bereiten.“ 


Zitierweise des englischen Originalartikels:

    Simon Crompton. The unkindest of cuts. The Times, London, 13 January 2003