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KNMG - Position: Nicht-therapeutische Beschneidung von Minderjährigen
KNMG - Dossier Jungenbeschneidung
KNMG: Die Beschneidung verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit
Weibliche Genitalverstümmelung ist gesetzlich verboten, aber Jungen werden immer noch massenweise beschnitten. Wenn keine therapeutische Notwendigkeit besteht, verletzt dies die Rechte des Kindes.
Am 27. Mai veröffentlicht die KNMG die Standpunkterkärung „Nicht-therapeutische Zirkumzision (NTC) bei minderjährigen Jungen“. Dieser Standpunkt wurde nach Konsultationen der relevanten wissenschaftlichen Fachgesellschaften formuliert und wird auch von diesen Fachgesellschaften unterstützt.(1) Der Grund für diese Standpunkterklärung ist die zunehmende Aufmerksamkeit für die Rechte von Kindern. Auch wissen wir mittlerweile, dass die Beschneidung bei Kindern manchmal zu schwerwiegende Komplikationen führen kann. Ein dritter Grund ist die Diskrepanz zwischen dem strengen Standpunkt der KNMG gegen weibliche Genitalverstümmelung und dem Fehlen eines Standpunktes bezüglich der nicht-therapeutischen Beschneidung von Minderjährigen – die einen vergleichbaren Eingriff darstellt.
Das Ziel dieser Standpunkterklärung ist in erster Linie, eine öffentliche Debatte zu diesem Thema in Gang zu bringen. Das letztendliche Ziel ist es, die nicht-therapeutische Beschneidung von Minderjährigen in größtmöglichen Umfang einzuschränken.
Die nichttherapeutische Beschneidung minderjähriger Jungen ist ein Eingriff, der seit Jahrhunderten von einer Vielzahl unterschiedlicher Kulturen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gründe durchgeführt wurde. Weltweit werden 13 Millionen Jungen jedes Jahr beschnitten. In den Niederlanden liegt der jährliche Wert zwischen zehn- und fünfzehntausend. In der Vergangenheit wurde die Beschneidung zur Prävention oder zur Behandlung einer großen Anzahl Beschwerden ausgeführt, so etwa von Gicht, Syphilis, Epilepsie, Kopfschmerzen, Arthrose, Alkoholismus, Hernien, Asthma, Verdauungsprobleme, Ekzeme und übermäßige Masturbation.(2)
In den letzten Jahrzehnten wurden Befunde veröffentlicht, denen zufolge die Beschneidung das Risiko für HIV/AIDS reduzieren könne (1,3), aber diese Studienbefunde werden von anderen Studien entkräftet.(4) Dass die Beziehung zwischen HIV-Übertragung und der Zirkumzision zumindest unklar ist, geht beispielsweise aus der Tatsache hervor, dass die USA sowohl eine hohe Prävalenz von sexuell übertragenen Krankheiten und HIV-Infektionen als auch einen hohen Prozentanteil routinemäßiger Beschneidungen haben.(5)
Die Situation in den Niederlanden ist genau umgekehrt: eine niedrige Prävalenz von HIV/AIDS zusammen mit einer relativ geringen Anzahl Zirkumzisionen. Daher scheinen Verhaltensfaktoren eine viel bedeutendere Rolle zu spielen als die Frage, ob man eine Vorhaut hat oder nicht.
Ferner gibt es Hinweise dafür, dass die Zirkumzision Schutz gegen Beschwerden wie HPV-Infektionen, Harnwegsinfektionen und Peniskrebs bietet. Auch diese Studien sind jedoch umstritten.(6) Kindern mit angeborenen Fehlbildungen der Harnwege kann im Allgemeinen leicht geholfen werden, durch eine Vorhauterweiterungsoperation, wodurch sich die Vorhaut einfacher reinigen lässt. Auch Harnwegsinfekte sind in der Regel leicht behandelbar.
Beschneidung verursacht viele Komplikationen und auch Todesfälle kommen vor
Den möglichen medizinischen Vorteilen steht eine große Anzahl an dokumentierten Komplikationen der Zirkumzision gegenüber: Infektionen, Blutungen, Sepsis, Nekrose, Fibrose, Harnwegsinfektionen, Meningitis, Herpes-Infektionen, Meatitis, Meatusstenose, Nekrose und nekrotisierende Komplikationen, die zur vollständigen Amputation des Penis geführt haben.(7) Auch Sterbefälle kommen vor.(8) Neben diesen direkten medizinischen Komplikationen, wurden auch psychologische Probleme und Komplikationen im Bereich der Sexualität dokumentiert.(9, 10)
Bei Neugeborenen, die ohne Betäubung beschnitten werden, können infolge der extreme Schmerzerfahrung noch Jahre später Verhaltensänderungen auftreten.(11)
Selbst wenn, aus medizinisch-präventiven Gründen, geringe medizinische Vorteile mit der Zirkumzision verbunden wären, ist es fraglich, ob diese möglichen medizinische Vorteile das Risiko für Komplikationen kompensieren würden. Gerade wenn es um Kinder geht, die nicht für sich selbst entscheiden können, sollten die möglichen medizinischen Vorteile groß und das Komplikationsrisiko gering sein, damit der Eingriff gerechtfertigt werden kann.
Die Beschneidung als Präventionsmaßnahme gegen Harnwegsinfektionen oder HIV/Aids muss hinsichtlich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses gegen andere, weniger invasive Präventionsformen (wie etwa Hygiene, Antibiotika, Kondomgebrauch, sexuelle Aufklärung, oder Verhaltensänderungen) abgewogen werden. Darüber hinaus ist es fraglich, ob bei einer derartigen Begründung, es wirklich notwendig ist, die Beschneidung im Kindes- oder Säuglingsalter durchzuführen, Warum nicht warten, bis der Junge ein Alter erreicht, in dem das Risiko relevant ist. Dann kann er, beispielsweise was die HIV-Prävention betrifft, selbst entscheiden, ob er sich beschneiden lassen will, oder lieber andere Alternativen wählt wie z. B. Kondomgebrauch, Verzicht auf Drogenkonsum, oder Abstinenz.
Die KNMG betrachtet die möglichen medizinischen Vorteilen der Beschneidung, abgewogen gegen die Alternativen und das Risiko der Komplikationen des Eingriffs, für unzureichend, um die Beschneidung aus medizinischen-präventiven Gründen rechtfertigen zu können. Sie sieht die Beschneidung aus nicht-therapeutischen Gründen deshalb auch als einen medizinisch nicht-notwendigen Eingriff. Die KNMG ruft (verweisende) Ärzte daher auf, Eltern und Betreuer, die die nicht-therapeutische Beschneidung von minderjährigen Jungen erwägen, mit Nachdruck über das Risiko von Komplikationen und das Fehlen von überzeugenden medizinischen Vorteilen zu informieren.
Die nicht-therapeutische Beschneidung minderjähriger Jungen verletzt die Regel, dass Minderjährige medizinischen Behandlungen nur dann unterzogen werden dürfen, wenn Krankheiten oder Fehlbildungen vorliegen, oder wenn eindeutig nachgewiesen werden kann, dass der medizinische Eingriff im besten Interesse des Kindes ist, wie im Falle von Schutzimpfungen. Die nicht-therapeutische Beschneidung ist ferner eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes. Dieses Recht, das in Artikel 11 des niederländischen Grundgesetzes und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist, ist eines der wichtigsten Grundrechte. Es schützt Menschen gegen ungewollte Eingriffe an ihrem Körper und kann nur durch eine Erlaubnis der betroffenen Person oder deren Vertreter aufgehoben werden, ein angemessenes Interesse (wie beispielsweise bei Schutzimpfungen von Kindern) oder durch eine gesetzliche Pflicht (wie etwa die verpflichtete Abgabe von DNA bei Verdacht auf ein Verbrechen).
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein unveräußerliches Menschenrecht, wie das Recht auf Leben und das Recht auf persönliche Freiheit. Dies bedeutet, dass die Einwilligung des Patienten (oder seiner Familie) keine ausreichende Rechtfertigung darstellt, um den Eingriff durchzuführen. Neben der Einwilligung muss auch stets noch ein weiterer Grund, wie beispielsweise ein medizinisches Interesse, vorliegen
Die Zustimmung des Patienten oder seiner Angehörigen stellt keine ausreichende Rechtfertigung dar
Einige religiöse Gruppierungen sehen die nicht-therapeutische Beschneidung als einen notwendigen Eingriff an, um einen Jungen vollständig in die religiöse Gemeinschaft aufzunehmen. In diesem Sinne wäre es im Interesse des Kindes, einer nicht-therapeutischen Zirkumzision unterzogen zu werden, weil damit wichtige kulturelle und religiöse Vorteile verbunden sind. Ein Kind, dass keiner Beschneidung unterzogen wird, könnte Schwierigkeiten haben eine eigene Identität zu entwickeln und das Gefühl bekommen, „anders“ zu sein und „nirgends“ dazuzugehören. Solche Gefühle können für Ärzte eine Überlegung sein, nicht-therapeutische Beschneidungen immer noch durchzuführen.
Eventuelle Gefühle der Scham, Probleme mit der Entwicklung der eigenen Identität, oder ein Gefühl „nicht dazu zugehören“, die das Kind erfahren könnte, wären weniger auf die fehlende Durchführung der NTZ zurückzuführen, als vielmehr auf die Tatsache, dass andere darauf achten, dass es nicht beschnitten worden ist. In dem Maße, wie die nicht-therapeutische Zirkumzision eine weniger verbreitete Praktik wird, wie es in Australien und Kanada bereits der Fall, wird es auch mehr und mehr „normal“ werden, dass Jungen nicht beschnitten sind. In der Literatur finden sich keine Belege dafür, dass nicht-beschnittene Jungen Schwierigkeiten haben ihre Identität zu entwickeln. Dies mag daran liegen, dass Eltern die sich dafür entscheiden, ihre Kinder beschneiden zu lassen, dies wahrscheinlich aus voller Überzeugung tun, und ihre Kinder auch in dieser Überzeugung erziehen.
Die nicht-therapeutische Beschneidung minderjähriger Jungen wird oft mit dem Recht auf religiöse Freiheit verteidigt. Das Recht auf Religionsfreiheit bedeutet, dass es Eltern frei steht ihre Kinder in einer Religion oder Philosophie ihrer Wahl zu erziehen. Das Recht auf Religionsfreiheit gilt jedoch nicht nur für Eltern, sondern auch für Kinder. Das Recht auf Religionsfreiheit des Kindes impliziert, dass das Kind, in einem späteren Alter, die Freiheit haben muss eine Religion oder Philosophie selbst zu wählen, oder die Religion oder Philosophie, in der es erzogen wurde, abzulegen. Das bedeutet, dass kein irreversibler, religiös motivierter Eingriff am Körper des Kindes erfolgen darf. So hat es immer die Freiheit, sich selbst für einen bestimmten Glauben zu entscheiden.
Es gibt gute Gründe für ein gesetzliches Verbot der nicht-therapeutischen Beschneidung, wie es für die weibliche Genitalverstümmelung besteht. Die Gefahr eines Verbots ist, dass der Eingriff von nicht medizinisch qualifizierten Personen durchgeführt wird, unter Umständen in denen die Qualität des Eingriffs nicht ausreichend gewährleistet werden kann. Dies könnte dazu führen, dass viel mehr ernsthafte Komplikationen auftreten, als es gegenwärtig der Fall ist.
Die KNMG ist sich bewusst, dass diese Praktik mit tiefen religiösen, symbolischen und kulturellen Gefühlen besetzt ist. Deshalb wäre es unrealistisch zu erwarten, dass diese Praktik kurzfristig beseitigt werden könnte, selbst wenn sie gesetzlich verboten wäre. Es ist aber an der Zeit ist für eine entschiedene Politik der Abschreckung. In den kommenden Jahre wird die KNMG, in Zusammenarbeit mit den relevanten wissenschaftlichen Fachgesellschaften, dieser Abschreckungspolitik nähere Form geben.
Arie Nieuwenhuijzen Kruseman, Internist und Vorsitzender des KNMG
Gert van Dijk, Politischer Mitarbeiter für Ethik in der KNMG
Korrespondenzadresse: info@fed.knmg.nl;
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Keine Interessenkonflikte vermerkt
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