Beschneidung- Große Folgen eines kleinen Eingriffs,

Die Jungenbeschneidung wird kritisiert. Ärzte verweisen auf die körperlichen Komplikationen der Operation. Und Männer, die mit ihrem beschnittenen Penis unzufrieden sind, melden sich immer stärker zu Wort, sogar innerhalb religiöser Gruppen. 

Bild im Original-Zeitungsbericht nicht vorhanden.

Der Königlich Niederländische Ärztebund, KNMG, legte vor einem Jahr den Finger in die Wunde. Die Beschneidung von Jungen aus nicht-medizinischen Gründen ist schädlich, stellte sie fest, und ist daher abzuraten. Ärzte werden aufgefordert sich nicht mehr an der Operation zu beteiligen.

„Eine schmerzhaftes und schädliches Ritual"

Vor kurzem ging KNMG noch einen Schritt weiter, mit einem Appell an Politiker und Menschenrechtsorganisationen zur Ablehnung der Jungenbeschneidung. Das sollte Helfen, das „schmerzhafte und schädliche Ritual“ schneller verschwinden zu lassen.

Mit dieser Aktion scheint die Ärzte-Organisation einen neuen Ton anzuschlagen, der sich einigen zufolge nahtlos an gefährliche anti-muslimische und anti-jüdische Geisteshaltungen anschließen würde. Aber der Ton ist nicht anti-jüdisch, nicht anti-islamisch und nicht neu.

Keine antireligiöse Aktion

„Zwischen den Reaktionen auf der KNMG-Website lesen Sie Vorwürfe von Nazi-Praktiken, die mich nicht fröhlich stimmen“, sagt der Professor für Kinderurologie Tom de Jong vom UMC Utrecht. „Die KNMG greift keine religiöse Gruppen an, sie reagiert nur auf das, was Glaubensgruppen den Ärzten auf den Tisch legen.“

Die Aktion scheint anti-religiös, aber das liegt daran, dass in den Niederlanden überwiegend muslimische und jüdische Jungen beschnitten werden. In der Tat schließt sich die KNMG einer internationalen Bewegung an, die in der Praxis vor allem gegen nicht-religiöse Beschneidungen gerichtet ist.

Besessen mit Hygiene

Die Protestbewegung ist vor allem in den englischsprachigen Ländern stark, wo traditionell alle Jungen beschnitten wurden. Diese routinemäßige, „säkulare Beschneidung" kam um 1900 in den Vereinigten Staaten auf.

Menschen waren zu jener Zeit besessen von Hygienevorstellungen, weil Wissenschaftler gerade entdeckt hatten, dass Bakterien Krankheiten auslösen können. Im Kampf gegen die Gefahr war alles erlaubt, auch das Abschneiden der Vorhaut, unter der sich Keime verstecken konnten.

Gegen die Masturbation

Ein weiterer Vorteil der Operation, so dachte man, war, dass Jungen am Masturbieren gehindert wurden. Besonders John Harvey Kellogg, Arzt und Erfinder der Cornflakes, machte sich aus diesem Grund für die Beschneidung stark. Ohne Betäubung, so war die Beschneidung am Besten. Denn durch den Schmerz sollten Jungs ein negatives Bild von ihrem Penis bekommen, so dass sie ein noch züchtigeres Leben führen würden. Auch bei Mädchen wollte Kellog die sexuelle Lust reduzieren, indem man ihnen ätzendes Phenol auf ihre Klitoris reiben sollte. Aber damit fand er keinen großen Anklang.

Gegenaktion.

Die Jungenbeschneidung erlebte einen Höhenflug Um 1965. Auf dem Höhepunkt wurden in den Vereinigten Staaten 85 Prozent der Jungen beschnitten. In den siebziger Jahren entstand eine Gegenbewegung von sogenannten „Intaktivisten“, die für die Bewahrung der Vorhaut eintreten. Es entstanden zahlreiche Organisationen, die vor der Beschneidung warnten. Und das mit Erfolg. Die Anzahl der beschnittenen Jungen ist in vielen Ländern gesunken. In den USA fiel die Beschneidungsrate von 85 Prozent im Jahr 1965 auf 56 Prozent im Jahr 2006, in Kanada von 47 Prozent im Jahr 1973 auf 32 Prozent im Jahr 2007 und in Großbritannien von 35 Prozent in den 1930erJahren auf 4 Prozent im Jahr 2000 und in Australien von 90 Prozent im Jahr 1955 auf 12 Prozent im Jahr 2000.

Mehr Beschneidungen in den Niederlanden

Völlig gegen diesen Trend hat die Zahl der Beschneidungen in den Niederlanden tatsächlich zugenommen, eine Folge der neuen Gruppe von Migranten-Kindern. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar, aber die Zahl der aus nicht-medizinischen Gründen durchgeführten Eingriffe wird auf 10 bis 15.000 jährlich geschätzt. Es sind vor allem muslimische Jungen, weil die jüdische Gemeinde klein ist und unter den restlichen Niederländern die Routine-Beschneidung nie Akzeptanz gefunden hat.

In die Hose pinkeln

Die Folge ist, dass niederländische Ärzte oft mit Komplikationen der Beschneidung konfrontiert werden. Das häufigste Problem sind Verengungen der Harnröhrenöffnung. Gemäß der seltenen medizinischen Literatur betrifft dies einen von fünf beschnittenen Jungen. Das Problem entsteht, weil die freiliegenden Eichel gegen die Unterwäsche reibt und leicht verhornt. Die Öffnung der Harnröhre verengt sich dadurch etwas.

Kinderurologe De Jong: „Letzte Woche habe ich einen muslimischen Jungen behandelt. Seine Mutter sagte: ‚Es ist so seltsam, seit der Beschneidung pinkelt er immer in die Hose‘. Durch die Verengung der Harnröhrenöffnung, muss die Blase zu viel Druck aufwenden, um sich zu entleeren, das Organ bekommt dadurch einen Muskel und wird verkrampft.“

Das Resultat ist, dass die Jungen den Urin nicht mehrzurückhalten können. „Dies kann durch einen simplen Eingriff gelöst werden“, sagt De Jong. „Aber der Junge ist dann schon eine ganze Weile so rumgelaufen.“

Blutungen

Auch Nachblutungen sind häufig, aber hierbei ist die Angst oft größer als die körperlichen Schäden. Als Spezialist sieht De Jong nur die schwerwiegenden Komplikationen. Er versorgt hässliche und schmerzhafte Narben. Er schließt Löcher, die versehentlich in die Harnröhre geschnitten wurden, sodass ein Kind aus zwei Löchern gleichzeitig pinkelt und er gräbt „vergrabene“ Penisse aus.

Letzteres ist vor allem für dickere Kinder mit einem kleinen Penis von Nöten. Wenn ihre Vorhaut plötzlich verschwunden ist, kann sich ihr Glied in den Bauch zurückziehen und damit unbrauchbar werden. Der Arzt entfernt dann etwas vom subkutanen Unterbauchfett – die „Ausgrabung“ – und stellt aus der umgebenden Haut eine neue Hülle um den Penis her.

Ohne Betäubung

„Im allgemeinen sind die Ärzte in Beschneidungskliniken sehr vorsichtig“, sagt De Jong. „Dies gilt auch für jüdische Mohelim [rituelle Beschneider, ed].“ Und leicht spöttisch merkt er an: „Es wird nicht viel mehr falsch gemacht als nötig.“ Aber das ist schon etwas.

Auch die Narkose gelingt oft nicht. „Die Betäubung eines Kinderpenis ist sehr schwierig. Wenn ich beispielsweise bei zehn Kinder probiere, eine Betäubung zu verabreichen, geht das bei einem oder zwei Kindern schief. Viele Jungen schreien dann auch immer wie Spanferkel, wenn sie beschnitten werden“. Bei jüdischen Babys wird der Eingriff sogar ohne irgendeine Betäubung durchgeführt. Und anders als Jahrhunderte lang angenommen wurde, können Babys sehr wohl Schmerzen spüren.

Die meisten Komplikationen können behandelt werden, relativiert der Arzt. Bleibende Schäden sind selten, obwohl es manchmal vorkommt, dass ein Penis amputiert werden muss. Jedes Jahr erscheinen in der Literatur Berichte über Jungen, die durch einen Unfall mit einem elektrischen Messer ihren Penis vollständig verloren haben. Dies ist auch mehrmals in den Niederlanden vorgefallen, mit viel negativer Werbung für die betroffenen Ärzte und Institutionen.

Leidensweg

Bleibende sexuelle Schäden sind häufiger. Besonders Masturbieren gestaltete sich schwieriger, stellt der Amerikaner Jonathan Friedman fest. Auf der Website beyondthebris.com, die von Juden erstellt wurde, die sich um der eigenen Gemeinschaft Willen gegen die Beschneidung aussprechen, skizziert er seinen Leidensweg.

Sobald er eine Erektion bekommt, werden die Narben an seinem Penis hart und schmerzhaft. Er hat kaum noch Berührungsempfindlichkeit in seiner Eichel. Und wenn er sich selbst befriedigt, auch mit Gleitmittel, fängt sein Penis an zu Bluten. Friedman leidet ferner an Schwellungen an der Beschneidungskante. „Ich kann nur einmal oder zweimal im Monat masturbieren“, schreibt er. „Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mich nicht beschneiden lassen wollen.“

Auswirkungen auf den Geschlechtsverkehr

Über die Wirkung der Beschneidung auf Geschlechtsverkehr ist wenig bekannt. Verrückt, dachten sich dänische Forscher, vor allem wenn man bedenkt, dass weltweit einer von drei Männern beschnitten wird. Im Juni veröffentlichten die Dänischen Forscher im International Journal of Epidemiology eine Untersuchung des Sexuallebens von 5500 Männern, die als Kinder beschnitten wurden oder nicht.

Obwohl die Unterschiede klein waren, berichteten beschnittene Männern und ihre Partner signifikant häufiger über Probleme. Die Männer hatten Schwierigkeiten, einen Orgasmus zu bekommen, oder kamen einfach zu schnell. Ihre Partner hätten häufiger Orgasmus-Probleme, litten häufiger unter Schmerzen während des Sex, waren danach weniger befriedigt.

Wichtigstes Sinnesorgan

Die Ergebnisse sind schwer zu interpretieren, reagierte Rik van Lunsen, Sexualwissenschaftler am Akademischen Medizinischen Zentrum in Amsterdam. "Es ist durchaus denkbar, dass viele beschnittene Männer in der Tat schneller eine Ejakulation bekommen und ihre Frauen daher bereits penetrieren, bevor sie bereit dafür ist, wodurch sie Schmerzen erleidet.

„Aber es können auch kulturelle Erklärungen eine Rolle spielen, wie die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Jedenfalls ist es eindeutig, dass die Vorhaut aus einem Grund da ist: Sie ist ein wichtiges Sinnesorgan. Man kann sie nicht ohne Konsequenzen entfernen.“

Keine medizinischen Vorteile

Medizinische Vorteile hat die Beschneidung keine, fügt De Jong hinzu. Ein beschnittener Penis ist höchstens geringfügig hygienischer, aber er findet, dass das kein Argument in einer Gesellschaft ist, wo jeder eine Dusche besitzt. Beschnittene Männer haben zumindest weniger Harnwegsinfektionen.

Aber diese Infektionen sind sowieso bei Männern selten, und außerdem gibt es Antibiotika. Und gegen Geschlechtskrankheiten bietet wirklich nur ein Kondom Schutz.

Recht auf Selbstbestimmung

Ohnehin sollte man nicht so rechnerisch an die Beschneidung herangehen, findet De Jong. „Das ist nicht eine Frage der Vor-und Nachteile, Es geht um ein Prinzip:... Das Recht auf Selbstbestimmung. Man darf niemandem unter sechzehn ein Tattoo stechen. Warum ist eine Beschneidung dann ok? Die Freiheit der Erziehung ist wichtig. Aber wenn es um die Gesundheit der Kinder geht, ist es das Beste, wenn die Behörden warnen. Dass passiert auch im Fall von Übergewicht bei Kindern.“

Die KNMG erkennt, wie viele Eltern mit dem religiösen Ritual verbunden sind. Sie fordern daher kein Verbot, sondern wollen bei den Leuten einen Denkprozess anregen. Ist es vernünftig, ein Kind einer Beschneidung zu unterziehen? Ist es nicht besser für das Kind zu entscheiden, wenn es volljährig ist

De Jong erwartet keinen schnellen Erfolg. „Die Reduzierung der Beschneidung bei Mädchen ging rasendschnell. Aber ich denke, bei den Jungs kann es noch 30 Jahre dauern, bevor wir soweit sind.“

„Ich will verhindern, dass andere solch ein Trauma erleben müssen“

Wenn es nach dem 60-jährigen Fred Krijnen aus Haarlem ginge, würde kein Junge mehr beschnitten werden. Seine eigenen Erfahrungen waren nichts weniger als dramatisch. Körperlich und psychisch leidet der freie Journalist darunter. So etwas will er niemandem antun.

Krijnen wurde im Alter von 3 Jahren operiert, wegen einer engen Vorhaut. An den Eingriff, kann er sich nicht mehr erinnern, aber an all das Leid, das daraus folgte. „Ich bekam enorme Nachblutungen", sagt er. „Ich erinnere mich noch, wie ich schreiend auf dem elterlichen Bett stand. Das Blut tropfte von meinen Penis herunter. Meine Mutter sagte: ‚Warte, Papa kommt bald nach Hause.‘ “ Papa hatte einen Erste-Hilfe-Zertifikat. Er verband das verletzte Kleinkind. Die schlimmste Panik war vorüber, aber die Schmerzen waren noch nicht vorbei.

Sechs Jahre nach dem Eingriff bekam der junge Krijnen ein neues, gesellschaftliches Problem. Während des Schulschwimmens in Amsterdam-West, wurde er gemobbt. „Was für einen seltsamen Pimmel hast du da“, riefen Klassenkameraden unter der Dusche. Das hat ihn immer verfolgt. „Als erwachsener Mann schäme ich mich immer noch dafür, wie er aussieht, besonders in Urinalen. Zum Glück schaffe ich es mittlerweile mich auf den Nacktstrand  zu wagen. Aber weil meine Eichel immer entblößt ist, denken die Leute, dass ich die ganze Zeit eine Erektion habe.“

Die bleibende Schäden sind aber nicht nur psychologischer Natur. Auch körperlich, hat er Probleme. So leidet Krijnen unter einem Juckreiz an seinem Penis. Dieser begann kurz nach der Operation. Er entstand als Kitzeln im Wundgewebe, teilweise als Folge der Nähte. Das Jucken ist nie mehr ganz verschwunden.

Die Ursache ist, dass sich feste Narben gebildet haben, und diese manchmal reizen. „Gerade nach dem Geschlechtsverkehr, wenn der Penis erschlafft“, sagt Krijnen. „Es lässt sich damit leben, aber es ist ärgerlich.“

Nun wollen wir doch noch über Sex sprechen: Krijnen sieht sowohl einen Vor- und einen Nachteil durch seine Beschneidung. Weil seine nackte Eichel ständig an seine Unterwäsche reibt, hat sich eine dünne Hornschicht darüber gebildet. Dies macht den Penis weniger empfindlich. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die  anregende Bewegung der Vorhaut fehlt und auch dadurch, dass die Vorhaut selbst –ein Organ mit extrem vielen Nervenenden – nicht mehr da ist. Die Folge ist, dass Krijnen beim Sex länger braucht. „Ich habe nie unter vorzeitigen Ejakulation gelitten“, erklärt er. „Das ist auch der Grund, warum Frauen auf der Website von Viva vor kurzem über beschnittene Männer jubelten.“

Auf der anderen Seite ist das Masturbieren ohne Vorhaut viel schwieriger. Krijnen vermeidet es meistens. Aber wenn er es doch tut, braucht er einen weichen Damenslip. Dieser ahmt die fehlende Penishaut nach. Früher benutzte er seine Pyjamahose. Mit den bloßen Händen ist es einfach zu schmerzhaft.

Krijnen hat viel Zeit gebraucht, bevor er über seine Probleme sprechen konnte. Mit solch einer Geschichte über einen Damenslip kann ich an niemanden herantreten. Die Leute denken dann schnell, dass ich ein Perverser bin. Erst in den letzten Monaten ist er offener geworden. Er hat eine Art „Coming Out“ erlebt, sagt er.

Die Offenheit nutzt er um zu warnen. „Was mich betrifft, gehört die Beschneidung absolut verboten. Man braucht keine Angst zu haben, dass sie in die Illegalität getrieben wird, weil es während des Schulbesuchs einfach zu kontrollieren ist. Es erschreckt mich, wenn ich sehe, welche Komplikationen diese Operation mit sich bringen kann. Ich wäre dieser traumatischen Behandlung lieber nicht unterzogen worden, und ich möchte verhindern, dass andere solch ein Trauma erleiden müssen wie ich.“